Ekel / Leichensache Kollbeck
wenn ich Notizen mache. Aber dies ist eine offizielle Zeugenvernehmung!“
Sylvia Wozniak gibt mit einem kurzen Achselzucken zu verstehen, daß es sie gleichgültig läßt.
Das Gespräch in den folgenden zwei Stunden verschafft Rinke einen tiefen Einblick in das Leben der Katharina Schade, der ein gänzlich anderes Persönlichkeitsbild vermittelt, als deren Eltern ihm zu beschreiben versuchten:
Katharina war nämlich keineswegs die selbstbewußte Powerfrau, deren Lebensinhalt sich nur auf die Erreichung hoher fachlicher und gesellschaftlicher Leistungen beschränkte. Sie war aus Fleisch und Blut, ausgestattet mit Sehnsüchten und Bedürfnissen.
Nicht berufliche Strebsamkeit, nicht die bewußte Vermeidung jeglicher Ablenkung von ihren ehrgeizigen Zielen waren die Gründe, Anbändelungsversuche der Männer zurückzuweisen. In Wirklichkeit verspürte sie bereits in der Oberschulzeit, seit der kurzen Liaison mit einem Mitschüler, eine unerklärliche Abneigung gegen das männliche Geschlecht, der sie sich lange Zeit nicht bewußt war. Statt dessen fühlte sie sich von Frauen erotisch angezogen.
Solcherart Empfindungen hielt sie für abnorm, sogar krankhaft. Sie versuchte, sich dagegen zu wehren. Doch je mehr sie ihre innere Abwehr gegen derlei Neigungen mobilisierte, um so stärker wurde ihre Gedankenwelt von ihnen beherrscht. Bald war der Teufelkreis geschlossen. So schwelte in ihrer Seele eine bedrohliche Melancholie. Katharina wollte psychologischen Rat, doch schreckte sie vor dem Gang zum Therapeuten zurück. So fraß sie alle ihre Probleme in sich hinein.
Ein zusätzliches seelisches Trauma erlitt sie, als sie Zeuge eines zufälligen Gespräches ihrer Eltern über Homosexualität wurde: Während die Mutter homosexuelle Neigungen für eine Krankheit hielt, die psychiatrisch behandelt werden müsse, hielt der Vater sie für einen Ausdruck dekadenter Lebensweise im Kapitalismus und den Auslöser von krimineller Gefährdung und Asozialität. „Mit solchen Elementen will ich nichts zu tun haben“, erhitzte er sich klassenkämpferisch.
Katharina war entsetzt. Doch es mangelte ihr an Mut, durch ein offenes Bekenntnis die eigene Seele von der neurotisierenden Last des ewigen Stillschweigens zu befreien. Und es fehlte die Fähigkeit, die Eltern als zutiefst kleinbürgerlich, verklemmt und unwissend beurteilen zu können: Sie war wirtschaftlich und seelisch von ihnen so abhängig, daß die elterliche Autorität alle Widerstandskräfte brach. Deshalb verkroch sie sich noch tiefer in ihr Schneckenhaus.
Von der ersten Begegnung an spürte Sylvia Wozniak, daß Katharina in sie verliebt war. Es kam zwischen ihnen auch zu Intimitäten. Sylvia Wozniak empfand dies nur als kurze Episode. Für Katharina aber schien sich eine neue Welt zu öffnen: Eine heiße Liebe war entflammt. Doch Sylvia Wozniak wollte die Beziehung zu ihrer alten Freundin nicht gefährden. Treue war ihr wichtiger als das kurze Abenteuer mit einem so viele Jahre jüngeren Mädchen.
Katharina fiel es offenbar schwer zu begreifen, daß ihre unbändige Zuneigung nicht erwidert werden konnte. So sehr sich Sylvia Wozniak auch bemühte, eine auf Vernunft basierende Kameradschaft zu pflegen, um so heftiger mußte sie Katharinas Gefühlsausbrüche abwehren. Durch den immer wieder theatralisch demonstrierten Liebesverlust und die hartnäckigen, aber erfolglosen Annäherungsversuche fühlte sich Sylvia Wozniak in einer Zwangslage, aus der sie sich nur befreien konnte, wenn sie Katharina auf Distanz hielt. Doch diese bombardierte sie mit abendlichen Anrufen. Zum Geburtstag erhielt sie von ihr ein herzzerreißendes, selbstverfaßtes Liebesgedicht. Auf diese Weise litt Katharina in den letzten langen Monaten unter zwei unverarbeiteten Konflikten: Zum einen wagte sie trotz Sylvias eindringlichem Zureden immer noch nicht, sich zu outen, ohne Rücksicht auf die Meinung ihrer Eltern. Nur so könnte sie ihre lesbischen Neigungen endlich ungehindert leben. Zum anderen verbaute die sklavische Unterwerfung alle Möglichkeiten, sich von Sylvia innerlich zu befreien, um dann unbelastet eine andere Beziehung einzugehen.
Am Abend des 18. Oktober rief Katharina letztmalig bei der Geliebten an. Freundlich, aber energisch verlangte Sylvia Wozniak, im Interesse der ausschließlich freundschaftlichen Empfindungen die Belästigungen endlich einzustellen. Doch Katharina zeigte keine Einsicht. Im Gegenteil: Sie reagierte mit einer Drohung, ehe sie den Hörer auflegte: „Wenn du mich
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