Ekel / Leichensache Kollbeck
beklagt der alte Mann.
„Danke, Herr Schneidereit, das wär’s fürs erste“, schließt Gregorius das kurze Gespräch ab, „jetzt muß ich rüber in die Wohnung. Dort wird’s sicher länger dauern. Ihre Aussage will ich aber noch protokollieren. Wollen Sie solange warten? Oder kommen Sie lieber morgen auf die Dienststelle?“
„Lieber morgen“, antwortet Schneidereit müde.
Gregorius übergibt ihm eine Vorladung: „Zeigen Sie das bei der Wache vor, man wird Sie dann zu mir bringen!“ Bei der Verabschiedung informiert er den Alten darüber, daß nach dem Abtransport des Leichnams die Wohnung bis morgen versiegelt wird.
Vorsichtig betritt Gregorius die Wohnung der toten Lisbeth Weber. Prüfend schweift sein Blick umher. Die Lampen im Korridor sind immer noch erleuchtet und die Zimmertüren geschlossen, ein Indiz dafür, daß Schneidereit und der Arzt tatsächlich nichts weiter angefaßt haben. Nur die Küchentür ist weit geöffnet. Gleich dahinter, fast in der Mitte der Küche, liegt auf dem Linoleumfußboden eine kleine, weißhaarige tote Frau. Als Unterlage dient ein großes Handtuch. Die Leichenstarre hat die Position des Körpers vor dem Todes eintritt fixiert: Die Beine sind leicht angewinkelt, der linke Arm ist am Körper entlang ausgestreckt. Der rechte hingegen ist gebeugt, die Hand in Schulterhöhe so erhoben, als wolle die Tote Gregorius mit staatsmännischer Geste begrüßen. Eine kurze, dicke Schnur mit fortlaufender Schlinge umschließt fest ihren Hals.
Der Kriminalist deutet die Situation richtig: Frau Weber muß sich vor die geschlossene Küchentür auf ein ausgebreitetes Handtuch gekniet, mit der rechten Hand die Schlinge über die Klinke gestreift haben und so verstorben sein, ohne die Hand wieder zurückziehen zu können. Später muß dann ihr Bruder die Schlinge von der Klinke gelöst und die Tote, so gut es die Leichenstarre zuließ, auf den Fußboden gelegt haben. Grigorius macht einige Fotos von der Toten. Dann sieht er sich in der Küche um: Ein antiquierter Küchenschrank, ein gekachelter Kohleherd, offensichtlich lange nicht benutzt, ein zweiflammiger Gaskocher, Tisch mit geblümter Wachstuchdecke, Stühle, eine einfache Waschgelegenheit auf einem Hocker. Alles in allem spiegelt die Küche die zeitgemäß übliche Wohnsituation älterer Leute in Altbauten wider. Fazit: Keine Auffälligkeiten. An der Küchentür entdeckt er den mit einer Reißzwecke befestigten Zettel, von dem Schneidereit sprach, macht vorsichtshalber ein Foto. Wieder muß er alle Sinne zusammennehmen, um die Kritzelei zu entziffern – und traut seinen Augen nicht. Auf dem Zettel steht:
„
Achtung! Für die Studenten in der Anatomie! Lisbeth Weber“
Es ist die Verfügung einer Selbstmörderin über den Umgang mit ihrem Leichnam. Gregorius ist überrascht: Er hat bereits eine Vielzahl von Leichensachen bearbeitet. Und: Natürlich, in Abschiedsbriefen werden immer wieder mal Wünsche geäußert, welcher Art die Bestattung sein und wo sie stattfinden soll, aber so etwas hat er noch nicht erlebt. Frau Weber muß eine solche Distanz zu ihrem Körper entwickelt haben, daß sie sich unmittelbar vor dem Tode mit derlei Gedanken überhaupt befassen konnte, schlußfolgert Gregorius. Und eine gewisse Ehrfurcht vor dieser sonderbaren Frau erfaßt ihn.
Dann betritt er den Korridor. An der Garderobe hängen Mäntel aus gutem Tuch und elegante Hüte, stumme Zeugen eines vergangenen besseren Lebens. Auf dem Läufer liegt ein Zettel. Es ist die Nachricht an den Bruder, die er nach dem Lesen wieder an die gleiche Stelle gelegt haben muß. Gregorius fotografiert die Situation und entschlüsselt den Text:
„Lieber Paul! Küchentür vorsichtig öffnen! Ruf unseren Dr. Wagenknecht an. Er schreibt den Totenschein. Telefonieren kannst Du in der Tischlerei Dietzel, Nebenhaus. Lisbeth“
An der Wohnzimmertür fallen ihm zwei weitere Zettel unterschiedlicher Größe auf. Wieder blitzt das Fotolicht. Gregorius erkennt aus dem größeren Schreiben die Bitte Lisbeths an ihren Bruder Paul, den Nachlaß so zu verteilen, wie sie auf dem Zettel in der Wohnstube niedergeschrieben hätte. Das kleine Blatt Papier enthält eine Mitteilung an die Polizei:
„Achtung! Für Polizei liegt alles Wichtige auf dem Nähmaschinentisch! Lisbeth Weber“
Gregorius ist erstaunt: „Die hat ja an alles gedacht!“ Und als er die Tür zum Wohnzimmer geöffnet hat, erreicht seine Rührung den Höhepunkt. An allen Möbeln, sogar an den kleinen und
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