Ekel / Leichensache Kollbeck
größeren Gegenständen in ihnen, hängen Zettelchen mit Verfügungen: Die gute Bekleidung zum Club der Volkssolidarität in der Rosenthaler Straße, die abgetragene in die Altstoffsammelstelle, die Sammeltassen zu Frau Witte im 1. Stock, das Besteck erhält die Nachbarin, die Bücher sollen in die Universitätsbibliothek …
Gregorius zählt mehr als 40 solcher Mitteilungen. Er ist überwältigt, mit welcher Präzision Frau Weber ihren Abgang aus dem irdischen Dasein vorbereitet hat. Allein das Schreiben der Zettel muß viele Stunden in Anspruch genommen haben.
Zwischen den beiden Fenstern steht eine Nähmaschine, ein schrankartiges Modell aus den 40er Jahren mit versenktem Maschinenteil. Darauf, sorgfältig drapiert, wichtige persönliche Papiere von Frau Weber: Ein Sparbuch mit einer beachtlichen Summe, ein akkurat verschnürtes Päckchen mit alten Aktien, von denen niemand weiß, ob sich eine weitere Aufbewahrung lohnt, ein auf ihren Namen ausgestellter Grundbuchauszug über ein Grundstück im Westberliner Stadtbezirk Schlachtensee, ihre Geburtsurkunde, Versicherungspolicen, die Sterbeurkunde des Gatten, ein handschriftliches Testament vom 1. Mai 1965, in dem Paul Schneiderreit als Alleinerbe benannt wird, Schmuck, persönliche Fotos und Briefe …
All das krönt eine handschriftliche Mitteilung an den Bruder:
„Lieber Paul! Das brauchst Du alles! Den Erbschein kriegst Du beim Staatlichen Notariat! Ich umarme Dich! Lisbeth“
In deutlichem Abstand zu diesen Unterlagen liegen weitere Papiere: Frau Webers Personal- und Rentenausweis, verschiedene Postkarten, die sie vor vielen Jahren an ihren Gatten geschrieben hatte und ein Schreiben:
„
An die Polizei!
In Vollbesitz meiner geistigen Kräfte scheide ich aus dem Leben
.
Die Postkarten habe ich meinem Mann geschickt, als ich zur Kur war. Sie sind für den Schriftenvergleich
.
Berlin, den 4.5.65
Lisbeth Weber, geb.Schneidereit“
Gregorius ist beeindruckt: Was ist das für eine Frau, die ihr Leben so organisiert beendet? Woher weiß sie, wofür sich die Polizei in solchen Fällen interessiert?
Seine Neugier ist entfacht. Im Bücherschrank findet er eine mögliche Antwort: Jede Menge juristische und kriminologische Literatur aus vergangenen Epochen. Neugierig blättert er in dem einen oder anderen bibliophilen Kleinod, bis ihm auf der Titelseite einer Broschüre für Polizeidienstkunde der Namenszug des Besitzers „Oberwachtmeister Rudolf Weber“ auffällt. Gregorius gelangt zu dem richtigen Schluß, daß Frau Webers Ehemann im Polizeidienst gestanden haben muß. Nun kann er sich auch das Wissen über die Erfordernisse bei der polizeilichen Untersuchung unnatürlicher Todesfälle erklären.
Im Schlafzimmer findet er eine ähnliche Situation wie in der Wohnstube vor. Es sind zwar nicht so viele Zettel angebracht worden, doch auch sie beinhalten klare Verfügungen, wer was erhalten soll.
Am Selbstmord von Frau Weber gibt es keinerlei Zweifel. Doch welche Beweggründe trieben sie in den Tod? Sind Anzeichen einer depressiven, krankhaften Entwicklung zu finden? Gregorius will mehr über diese Persönlichkeit und ihre Motive wissen, hofft, das im Gespräch mit dem Bruder zu klären.
Dann vernimmt er aus dem Treppenhaus das ihm vertraute, geräuschvolle Stapfen der Bestatter mit dem Transportsarg.
Einen Moment noch verharrt er nachdenklich am Leichnam der alten Frau. Irgendwie bezeugt er auf diese Weise seine Hochachtung vor dieser ungewöhnlichen Person. Wenig später versiegelt er die Wohnung.
Den Rest der Dienstzeit quält sich Gregorius mit dem üblichen Papierkram herum: Tatortbefundsbericht und Befragungsprotokolle schreiben, interne Vordrucke ausfüllen.
Dann telefoniert er mit dem Gerichtsarzt Dr. Radant im Institut für Gerichtliche Medizin, Hannoversche Straße. Er unterrichtet ihn über seine bisherigen Feststellungen in der Leichensache Lisbeth Weber und meint, daß nach Lage der Dinge auf eine Autopsie verzichtet werden könnte. Der Doktor sagt zu, den Leichnam nur äußerlich zu untersuchen und, falls sein Befund nicht im Widerspruch zu Gregorius’ Recherchen steht, eine Ergänzung im Totenschein vorzunehmen, damit die Leiche schnell freigegeben werden kann.
Eindrucksvoll beschreibt Gregorius die außergewöhnliche Situation, die Frau Weber hinterlassen hat und wirft dabei die Frage auf, ob ihre Verfügung, den Leichnam dem Anatomischen Institut überlassen zu können, realisierbar sei. Doch der Gerichtsarzt verneint: Bei unnatürlichen
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