Ekel / Leichensache Kollbeck
Todesfällen nicht möglich! Für anatomische Präparierübungen stünde ausreichendes Leichenmaterial zur Verfügung; Spender seien auf natürlichem Wege Verstorbene, die keine Angehörigen mehr besäßen.
Gregorius ist für einen Augenblick ein wenig enttäuscht. Der Wunsch der alten Dame wird wohl unerfüllt bleiben.
Am nächsten Morgen sitzt Paul Schneidereit im Dienstzimmer des Kriminalmeisters Gregorius. Seine bisherigen Aussagen erlangen nur durch die offizielle Vernehmung als Zeuge beweisrechtliche Bedeutung. So verlangt es das Gesetz. Gregorius nimmt sich dafür Zeit. Schneidereit gibt sich ruhig und gefaßt, läßt sich die Trauer um seine Schwester nicht anmerken und beantwortet die Fragen des Kriminalisten nach ihren wichtigsten Lebensstationen sachlich und ohne emotionale Aufwallungen. Bald kennt Gregorius ihre ereignisreiche, durch zwei Kriege gezeichnete Biographie: Lisbeth heiratete 1915 ihre große Liebe, den zwei Jahre älteren Wachtmeister der Staatlichen Preußischen Schutzpolizei Rudolf Weber. Der Polizeidienst machte ihn während des Ersten Weltkrieges im Hinterland des Deutschen Reiches unabkömmlich, so daß er fernab vom Kriegslärm immer in der Nähe seiner jungen Frau bleiben konnte. Das junge Paar bezog eine kleine Wohnung in einer Beamtensiedlung im Stadtbezirk Tegel. Lisbeths Kinderwunsch mußte wegen einer schweren Unterleibserkrankung unerfüllt bleiben. 1935 wurde Rudolf Weber zum Landeskriminalpolizeiamt versetzt. Zwei Jahre später, mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, wurde die Kriminalpolizei umstrukturiert und der Sicherheitspolizei unterstellt. Lisbeths Mann bekundete nun seine Loyalität gegenüber der neuen Obrigkeit und wurde von der Sicherheitspolizei übernommen. Sie indes versorgte ihn mit der liebevollen Hingabe einer guten Hausfrau. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Rudolf Weber wiederum für unabkömmlich befunden, so daß ihm der Kampf in den fernen Schützengräben erspart blieb. Doch gleich bei den ersten Luftangriffen auf Berlin fiel ihr Tegeler Wohnhaus angloamerikanischen Bomben zum Opfer. Das Mobiliar war hin, doch sie lebten. Mit den wenigen Habseligkeiten, die sie aus den Trümmern bergen konnten, zogen sie in die Keibelstraße 1 im Stadtbezirk Mitte. Und mit dem Kriegsende – ihr Haus war inzwischen zwar ziemlich ramponiert, doch bewohnbar – beschlossen sie, von dort nicht wieder auszuziehen. Gleichzeitig wurde Lisbeths Gatte aus der Polizei entlassen und mußte sich den Drangsalen der Entnazifizierung durch die sowjetische Besatzungsmacht unterziehen. Danach arbeitete er als Lagerverwalter in der Berliner Markthalle, während Lisbeth bei der BVG als Straßenbahnfahrerin eine Anstellung fand. 1955 wurde Rudolf Weber berentet. Seine kleine Rente zwang Lisbeth, noch bis zu ihrem 60. Lebensjahr zu arbeiten. Ab 1957 führten sie dann ein bescheidenes, doch friedvolles Rentnerdasein. Immer wieder wurden sie von Freunden und Bekannten gedrängt, dem Sozialismus den Rücken zu kehren und nach Schlachtensee in den Westen Berlins zu ziehen, wo Lisbeths elterliches Grundstück stand. Doch sie blieben bodenständig und scheuten jede weitere Ortsveränderung. Vor einem Jahr, im Frühjahr 1964, verstarb Rudolf Weber, 74 Jahre alt. Für Lisbeth brach eine Welt der Gemeinsamkeit und Harmonie zusammen. Ihr Bruder, Paul Schneidereit, seit einigen Jahrzehnten Witwer, bot ihr an, seine Wohnung in der Oderberger Straße nun mit ihr zu teilen. Doch sie schlug den Vorschlag aus, wollte allein weiterleben und verschanzte sich hartnäckig hinter der Maxime: „Ich bleibe hier! Nur noch mit den Füßen zuerst verlasse ich diese Wohnung!“
Die Bedeutung dieses Satzes wird jetzt erst richtig klar. Denn: Vor wenigen Wochen erhielten die Hausbewohner der Keibelstraße 1 einen Brief des Magistrats von Groß Berlin, in dem ihnen mitgeteilt wurde, daß die Stadtbauplanung den Abriß des Hauses vorsieht und ihnen dafür Ersatzwohnungen in einem Neubaugebiet angeboten werden.
Gregorius glaubt jetzt, den Inhalt der Postkarte zu verstehen, auf der Lisbeth Weber ihrem Bruder mitgeteilt hatte, nicht mehr umziehen zu wollen, außer in den Himmel.
„Steht denn schon ein Termin für den Abriß des Hauses fest?“ will Gregorius wissen.
„Dazu kann ich nichts sagen“, sagt der alte Schneidereit.
Als er das Vernehmungsprotokoll durchgelesen und die Richtigkeit seiner Angaben mit seiner Unterschrift bestätigt hat, will er von Gregorius wissen, wann und wie die
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