Ekel / Leichensache Kollbeck
Antragsteller könne er keine Tätigkeit im sozialistischen Erziehungswesen ausüben.
„Seit dieser Zeit durfte er aber die sozialistische Tagespresse in die Hausbriefkästen stecken“, bemerkt Frau Waller spitz. Sie unterstreicht, daß Joachim wirklich nicht aus politischen Erwägungen in den Westen wollte. Er sei überhaupt ziemlich unpolitisch gewesen. Nur bei der Begründung des Antrages berief er sich auf den Korb III der KSZE – Schlußakte von Helsinki, die Erich Honecker ja unterschrieben habe. Bei der Abteilung Inneres habe man ihn immer wieder zu überzeugen versucht, den Ausreiseantrag zu annullieren und seine Freundin zu veranlassen, in die DDR zurückzukehren, dann könne er wieder seine Tätigkeit als Heimpädagoge aufnehmen. Das habe ihren Sohn ziemlich zermürbt. Und als im Frühjahr 1978 Marina dann einen Sohn gebar, konnte er nicht einmal besuchsweise zu ihr. Das machte ihn fix und fertig. Jetzt ist das Kind schon zwei Jahre alt, und der Vater kennt bzw. kannte es nur von den Fotos. Daß Joachim keinen Abschiedsbrief hinterlassen und auch sonst sein Vorhaben nicht angekündigt habe, wertet die Mutter als Indiz für eine Kurzschlußhandlung.
„Wenn er sich in vertrackten Situationen befunden hat, wurde er störrisch, reagierte chaotisch und unüberlegt. Ich denke, sein Tod hängt mit dieser Ausreise zusammen. Warum sollte er sich sonst umbringen? Glauben Sie, Joachim hätte das getan, wenn sie ihn nach drüben hätten fahren lassen?“ fragt Frau Waller klagend.
Hartloff versteht die Frau, hält aber seine Meinung zurück. Statt dessen macht er ein Gesicht, als wolle er ausdrücken, daß er für die Situation nicht verantwortlich sei und stellt lediglich resignierend fest: „Tja, das ist eben so!“
„Ich habe keine andere Erklärung für seinen Tod!“ wiederholt Frau Waller.
„Lassen wir das einmal so stehen“, schließt Hartloff die Befragung ab.
Doch er kann sich nicht entschließen, die durchaus begründete Vermutung der Mutter für das Selbstmordmotiv ihres Sohnes in den Abschlußbericht zu übernehmen.
Statt dessen tippt er in die Maschine „Suizid aus Liebeskummer“. So neutralisiert er das Problem, entzieht ihm den politischen Gehalt und vermeidet, daß seine Vorgesetzten nachträglich heikle Fragen stellen. Und irgendwie stimmt es ja, auch wenn es den Kern der Sache nur streift.
Für die Entgegennahme und Bearbeitung von Ausbürgerungsersuchen waren in Berlin die Abteilungen „Inneres“ der Räte der Stadtbezirke (in den Kreisstädten der jeweilige Rat der Stadt) zuständig. Sie unterstanden einem der sog. Stellvertreter des Rates des Stadtbezirks (bzw. der Stadt), dem „Stellvertretenden Vorsitzenden für Inneres“. In dessen Zuständigkeit lagen auch die Abteilungen „Kirchenfragen“ und „Personenstandswesen“ (Gesetzblatt der DDR Nr. II, Seite 701 vom 30.09.1965)
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Im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterzeichnete am 1. August 1975 Staats- und Parteichef Erich Honecker die Schlußakte von Helsinki. In deren „Korb III“ ging die DDR nicht nur vertragliche Verbindlichkeiten hinsichtlich besserer Arbeitsbedingungen für die in der DDR akkreditierten Journalisten und leichteren Zugangs zu Informationsmaterialien, sondern vor allem der sog. Familienzusammenführung ein
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Die Folge war ein rasanter Anstieg der Ausbürgerungsbegehren. Der Betreffende mußte bei der Abteilung Inneres unter Aufsicht einen umfänglichen Fragebogen ausfüllen: Personalien, Besitz- und Vermögensverhältnisse, Arbeitsstelle, Zugehörigkeit zu Parteien, Massenorganisationen, gesellschaftliche Funktionen. Auch über alle seine Verwandten (bis zum Ehepartner von Bruder und Schwester und zu deren Kindern) mußte er solcherart Angaben machen. Schließlich wurde eine ausführliche schriftliche Begründung des Antrags gefordert. Danach wurde ihm zugesagt, innerhalb von acht Wochen einen Bescheid zu erhalten
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Nun begannen die Mühlen der sozialistischen Bürokratie auf Hochtouren zu laufen: Die Abteilung Inneres informierte innerhalb von 48 Stunden das Ministerium für Staatssicherheit und die Volkspolizei. Sie entsandte Schreiben an die Arbeitsstelle des Betreffenden (aber auch an die sämtlicher Verwandter) mit der Aufforderung, zu dem Ausbürgerungsantrag Stellung zu nehmen. Wenn der „Ausreisewillige“ (im internen Sprachgebrauch benutzter Begriff) eine vermeintlich gesellschaftspolitisch wichtige Tätigkeit ausübte (z. B. im Staatsapparat,
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