Ekel / Leichensache Kollbeck
unerträglich, doch fügte sie sich ihrem Schicksal. Auch die gute Beziehung des Vaters zur Schule tat ihr übriges für ihren bescheidenen Erfolg. Aber die nur knapp durchschnittlichen Noten reichen nicht für das Medizinstudium, das die Eltern von ihr erwarten. Zu deren Leidwesen muß Lucretia sich mit einer Ausbildung an der Medizinischen Fachschule begnügen.
Selbst die fällt ihr schwer, obwohl sie es sich nicht anmerken läßt. Aber schließlich bewältigt sie das Staatsexamen und wird Krankenschwester in der Chirurgie der Medizinischen Akademie. Ganz in deren Nähe bezieht sie eine kleine Wohnung und besucht die Eltern nur noch selten. Auf diese Weise entgeht sie den ständigen Nörgeleien des Vaters.
Nach dem Weggang Lucretias richten sich die elterlichen Erwartungen auf Claudia. Sie hat zwei Jahre später ihr Abitur mit guten Ergebnissen abgelegt. Energisch und lange vor dem Oberschulabschluß verkündet aber auch sie ihren enttäuschten Eltern, keinen Bock auf ein langes Medizinstudium zu haben. So wird sie MTA in der Röntgenabteilung des Katholischen Krankenhauses und verläßt das strenge Elternhaus in der Erwartung, bald einen braven Katholiken heiraten zu können.
1976 emeritiert Prof. Dr. Wildenbruch und hat nun Zeit, die lädierten Bandscheiben zu schonen, seiner Leidenschaft fürs Altgriechische nachzugehen, die staatlich zugeteilten vier Wochen im Jahr für Verwandtenbesuche im Westen zu nutzen und die kränkliche Gattin, die bereits zwei Jahre vorher dieses Privileg erwarb, dabei zu begleiten.
Patricia, die jüngste Schwester verläßt 1977, gleich nach dem Abitur, das Elternhaus, um an der Burg Giebichenstein, der renommierten Kunsthochschule in Halle, ihr bildnerisches Talent zu einem möglichst einträglichen Broterwerb zu vervollkommnen. Schon bald lösen sich auch die innerlichen Bande zu den Eltern, und sie genießt die befreiende Unkompliziertheit des Künstlerlebens.
Claudia ist die einzige der drei Schwestern, die sich um den Erhalt der Familienkontakte bemüht. Da Patricia in Halle der Maxime folgt „ein Blick in die Bücher, ein Blick in den Farbkasten, aber drei Blicke ins Leben“, hat ihre Seele kaum mehr Platz für schwesterliche Gefühle. In der ersten Zeit, wo der Geldmangel sie regelmäßig nach Hause trieb, war das anders, die Schwestern sahen sich häufiger. Jetzt aber erreichen die elterlichen Überweisungen pünktlich ihr Hallesches Konto. Damit schrumpfen die Besuche in Erfurt nur auf wenige Feiertage. Aber immerhin: Gelegentlich schreibt sie Claudia kluge und lustige Briefe.
Lucretia läßt, obwohl sie in Erfurt wohnt, wenig von sich hören. Claudia vermutet, daß die anstrengende berufliche Tätigkeit ihre inneren Reserven für Hobbys und Freundschaften restlos aufbraucht. Hin und wieder telefonieren sie im Dienst miteinander. Lucretia klagt über die extremen Anforderungen in der Klinik, die sie nur unter Aufbietung aller Kräfte erfüllt, leidet unter Leibschmerzen, Mattigkeit und Unlust.
Eine Woche später erfährt Claudia bei einem Anruf im Klinikum, daß ihre Schwester seit zwei Tagen krankgeschrieben ist. Bei nächster Gelegenheit erscheint sie an Lucretias Wohnungstür. Sie muß mehrmals klingeln, ehe Lucretia öffnet. Claudia ist erschüttert von dem erbärmlichen Zustand ihrer Schwester: Fahlblaß und ungepflegt, mit strengem, freudlosem Gesicht. Sie scheint ernsthaft erkankt zu sein.
„Guck dich nur nicht um“, stöhnt sie, „ich weiß, bei mir sieht’s schlimm aus!“ Sie schlurft zurück zur Schlafcouch und verkriecht sich unter der Decke.
Claudia sieht sich um: Überall Unordnung. Obwohl es heller Tag ist, sind die Fenster durch schwere Vorhänge fast verdunkelt. Die Luft ist stickig, seit langem wurde nicht gelüftet. Energisch reißt Claudia die Vorhänge zurück und öffnet die Fenster: „Hier erstickt man ja, wie hältst du das nur aus?“
Lucretia zuckt gleichgültig mit der Schulter und schließt die Augen vor der Helligkeit.
Claudia setzt sich zu ihr: „Du siehst ja schlimm aus, was fehlt dir denn?“
„Ich bin fix und fertig, mein Bauch tut weh …“, stöhnt sie.
„Warst du beim Arzt?“ will die Schwester wissen. Lucretia nickt wortlos.
„Und? Was hat er gesagt?“ erkundigt sich Claudia weiter.
„Nichts weiter, ich soll mich mal ausspannen, meine Nerven haben schlappgemacht“, flüstert Lucretia leidend.
„Hat er deinen Bauch untersucht?“
„Doch, aber nichts gefunden, trotzdem habe ich Bauchmerzen!“ „Jetzt
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