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Ekel / Leichensache Kollbeck

Ekel / Leichensache Kollbeck

Titel: Ekel / Leichensache Kollbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Girod
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im Bildungswesen, als Abteilungsleiter in volkseigenen Betrieben), lag es de jure im Ermessen der Arbeitsstelle, eine fristlose Kündigung auszusprechen. Dann wurde ihm eine Tätigkeit in einem gesellschaftspolitisch weniger wichtigen Bereich zugewiesen. Diese Verfahrensweise war de facto die Regel
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    Mit den Verwandten wurden indes „Aussprachen geführt“. Deren Ziel war es, sie zu verpflichten, den Antragsteller von seinem Vorhaben abzubringen oder jeglichen Kontakt zu ihm abzubrechen
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    Die Entscheidungen der jeweiligen Betriebe und die Ergebnisse der Aussprachen wurden im Rahmen festgelegter Fristen der Abteilung Inneres schriftlich mitgeteilt
.
    Etwa nach zwei Monaten wurde der Antragsteller vorgeladen. Man teilte ihm mit, sein Vorgang befinde sich in Bearbeitung. Von nun an wurde er mindestens einmal monatlich zu sog. Abstandsgesprächen genötigt. Psychologisch und taktisch mehr oder weniger geschickt leisteten die Staatsorgane harte Überzeugungsarbeit, um den Betreffenden zu einer Rücknahme seines Antrages zu bewegen. Manchmal gelang dies auch. In den meisten Fällen jedoch verhärteten sich die Fronten. Die ursprünglich keineswegs mit einer Ablehnung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR korrespondierenden Motive schlugen zunehmend in politische Beweggründe um. Die Labilisierungsstrategie in derartigen Aussprachen führte letztlich dazu, die Hartnäckigen zu politischen Feinden zu erklären und dementsprechend zu behandeln. Die Methode regelmäßiger „Aussprachen“ setzte auf den Faktor Zeit. Deshalb erstreckte sie sich in den meisten Fällen über mehrere Jahre. Und eine Entscheidung, ob und wann einem Ausbürgerungsantrag stattgegeben wurde, war niemals vorhersehbar. Sie unterlag letztlich der Willkür des MfS
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    Im Verlaufe der Zeit schlossen sich viele Antragsteller zusammen: Sie gaben sich öffentlich durch kleine weiße Stoffstreifen an Autoantennen zu erkennen und organisierten (häufig unter dem Dach der evangelischen Kirche) Selbsthilfegruppen, um sich in taktischen Fragen des Umgangs mit den staatlichen Organen zu schulen. Solcherart „unverzeihliche Machenschaften“ mobilisierte die sensiblen Mielkeschen Langohren. Und die Verkehrspolizei betrachtete die kleinen weißen Wimpel an den Autoantennen straßenverkehrsrechtlich als „nicht genehmigte Sonderkennzeichen“ und ahndete dies im günstigen Falle mit sog. gebührenpflichtigen Verwarnungen
.

Den Teufel im Leib
    Lucretia Wildenbruch, Jahrgang 1953, ist eine Tochter aus gut bürgerlichem Hause. Gottesfurcht, Fleiß, Disziplin, Sparsamkeit und Violinespiel für gelegentliche Hauskonzerte bilden die sittliche Aussteuer, die der gestrenge Vater ihr für das künftige Leben mitgibt. Auch die beiden Schwestern werden mit diesen Tugenden ausgestattet: Die zwei Jahre jüngere Claudia bleibt allerdings des Violinespiels unkundig, weil der Vater ihr das häusliche Piano zuwies, das ansonsten nur ihm vorbehalten ist. Und die fünf Jahre jüngere Patricia, deren musikalischer Umgang mit der Flöte trotz aller pädagogischer Kunstkniffe nur zu mäßigem Erfolg führte, entwickelt ihr Talent lieber im Umgang mit Skizzenblock und Zeichenstift.
    Viele Jahre hält Gott die schützende Hand über das Einfamilienhaus der frommen Wildenbruchs im Erfurter Süden, unweit des Steigerwaldes. Die Mutter bewirtschaftet das Haus, die Mädchen pauken pflichtbewußt für ihre Zukunft und üben sich in Sittlichkeit und Frömmigkeit. Abitur ist das mindeste, was der Vater an Bildung fordert. Er selbst widmet sich als Professor für Philologie an der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität der Erforschung alter Sprachen. Nur die Wochenenden gehören dem gemeinsamen Kirchgang und Musizieren.
    Dann scheint Gott seine Hand für einen Augenblick zurückzuziehen: Nur mit Ach und Krach besteht 1972 Lucretia ihr Abitur. Niemand hatte damit gerechnet, daß sie es überhaupt schafft. Bereits in der 11. Klasse ließen ihre Leistungen auf unerklärliche Weise stark nach. Sie verlor die Lust an der Schule, verkroch sich häufig in ihr Zimmer, scheute den Kontakt mit Freunden, hörte lieber Musik, als sie im Familienverband aktiv zu betreiben, schrieb düstere Gedichte oder schlief auch am Nachmittag, wenn die Erschöpfung sie übermannte. Alle Welt befürchtete, sie könne bis zum Abitur die Wissensdefizite nicht mehr aufholen. Aber sorgsam wachten die Eltern darüber, daß sie erfolgreich paukte, bis ans Ende ihrer Kräfte. Lucretia empfand diese Dressur als

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