Ekel / Leichensache Kollbeck
fast unmerklich mit der Schulter und sagt: „Ich hab doch gesagt, das geht schon in Ordnung!“ Baumgartner läßt sich seine Verärgerung nicht anmerken und übergibt, innerlich kochend, kurze Zeit später alle Unterlagen an das Vogelgesicht.
Später fragt er seinen Chef, ob derartiges üblich sei. „Das nicht“, meint dieser resignierend, „aber ab und zu machen die das. Nur umgekehrt geht’s nicht.“
Baumgartner fühlt sich in seinem Stolz verletzt: Da nimmt ihm irgendeiner kraft eines Amtes mir-nichts-dir-nichts einen nicht abgeschlossenen Vorgang weg, und er darf nicht einmal erfahren, warum!
Wochenlang grämt er sich über diesen Vorfall, und er wird fast jeden Tag von neuem an ihn erinnert, wenn er das Vogelgesicht im Speisesaal erblickt, das ihn nunmehr immer freundlich grüßt. Der Zufall will es, daß sich beide Männer eines Tages in einer der engen Fahrkabinen des Paternosters begegnen. Baumgartner fragt den MfS-Mann in der Annahme, daß dieser ihm den Stand der Ermittlungen mitteilt: „Na, wie weit seit Ihr mit dem Doktor Eichelberg?“ Doch der mißversteht ihn gründlich. Leichtfertig offenbart er ein ansonsten streng behütetes Dienstgeheimnis: „Ach, der ist jetzt unser Mann!“ Baumgartner begreift das nicht, sagt aber, um nicht ganz dumm zu erscheinen: „Na, ist doch gut!“
Später vertraut er seinem Chef, Hauptmann Beck, die Begegnung mit dem Vogelgesicht an. Der lächelt vielsagend und meint nur: „Nun ist dein Doktor ein Blauer!“ Baumgartner versteht nicht. Beck bemerkt dies und flüstert ihm langsam, jede Silbe einzeln betonend, ins Ohr: „In-offi-ziel-ler Mit-ar-bei-ter!“
Der Begriff „Blauer“ kennzeichnet im internen Sprachgebrauch des MfS einen Inoffiziellen Mitarbeiter und geht darauf zurück, daß in den Gründerjahren der Staatssicherheit dafür blaue Personalakten verwendet wurden. Die Tatsache, daß der Vorgang Dr. Eichelberg dem Sachbearbeiter Baumgartner entzogen wurde sowie die Bemerkungen des MfS-Mannes und des Kommissariatsleiters begründen die Vermutung, daß Dr. Eichelberg zur inoffiziellen Mitarbeit für das MfS genötigt wurde. Daß solche Anwerbungspraktiken bestanden, belegen die Richtlinien und Durchführungsbestimmungen des DDR-Geheimdienstes
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Auszug aus der vom Minister für Staatssicherheit im Januar 1968 erlassenen „Richtlinie 1/68 für die Zusammenarbeit mit Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit und Inoffiziellen Mitarbeitern im Gesamtsystem der Sicherung der Deutschen Demokratischen Republik“ mit dem Vermerk „Geheime Verschlußsache“:
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2. Die Auswahl, Überprüfung und Gewinnung Inoffizieller Mitarbeiter
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2.3.2.3 Die Werbung zur Förderung des Wiedergutmachungswillens
Die Art dieser Werbung kann zur Anwendung kommen bei Personen, die durch ihr Handeln Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens verletzt haben und durch ihre Mitwirkung an der Lösung politisch-operativer Aufgaben die Möglichkeit erhalten, einen Beitrag zur Wiedergutmachung zu leisten
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Die Werbung zur Förderung des Wiedergutmachungswillens kommt zur Anwendung, wenn keine hinreichenden Ansatzpunkte für die Werbung auf anderer Grundlage gegeben sind und die Werbung zur Förderung des Wiedergutmachungswillens die erfolgversprechendste ist
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Die Wiedergutmachung bei Verletzung von Strafrechtsnormen mit der Folge des Wegfalls oder Milderung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ist Bestandteil des gesellschaftlichen Strafrechts
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Bei beabsichtigten Werbungen, die den Wegfall der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zugrunde legen, hat eine Abstimmung mit der zuständigen Untersuchungsabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit zu erfolgen …“
Auszug aus dem mit dem Geheimhaltungsgrad „Geheime Verschlußsache“ gekennzeichneten und von Mielke unterzeichneten Dokument vom 8. Dezember 1979: „Richtlinie 1/79 für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit (GMS)“:
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3. Bei der Werbung auf der Grundlage der Auslösung von Rückversicherungs- und Wiedergutmachungsbestrebungen der Kandidaten mit Hilfe kompromittierender Materialien ist auszugehen von der Verletzung gesellschaftlicher Normen durch die Kandidaten einerseits und andererseits von ihrem Verlangen, negative Folgen dieser Normverletzung von sich abzuwenden bzw. eingetretene Schäden durch eigene Leistung wiedergutzumachen oder zu ersetzen
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Das kompromittierende Material muß
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geeignet sein, den Kandidaten die
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