Ekel / Leichensache Kollbeck
daß er durch die bevorstehende Scheidung auch seinen Sohn verlieren wird. Er habe bisher zuviel erdulden müssen, was er nun nicht mehr verkrafte. Zu viele Dinge habe er in seinem Leben für sich behalten müssen, ohne jemals darüber sprechen zu können. Jetzt nehme er alle Probleme mit in den Tod.
Blaß, ernst und ohne erkennbare Rührung vernimmt Frau Dr. Dorle Eichelberg die letzten Worte ihres Gatten. Dann starrt sie einen Moment lang stumm auf das Tonbandgerät. Baumgartner bemerkt jetzt ihre feuchten Augen. Als wäre ihr die eigene Regung peinlich, wischt sie mit dem Handrücken die Tränen ab und seufzt tief: „Schade! So intelligent – und doch nur ein schwacher Mensch!“
Baumgartner empfindet diesen Satz wie einen dicken Schlußstrich, der gerade unter eine Ehe gezogen wurde.
Nach kurzem Nachdenken wendet er sich an den Wachtmeister auf dem Korridor und erlöst ihn von der stupiden Sicherungsaufgabe: „Genosse Meister, Sie können den Einsatz beenden. Veranlassen Sie den Abtransport der Leiche. Ich bleibe solange hier!“
Er braucht keine Zuhörer bei dem folgenden Gespräch mit Frau Dr. Eichelberg, von dem er sich weitere Aufschlüsse über die Persönlichkeit des Toten, die Ehe und Selbstmordmotive verspricht.
Seine Vermutungen bestätigen sich. In der Tat hatte Frau Dr. Eichelberg vor kurzem die Scheidung eingereicht, weil sie die Ehe für zerrüttet hielt. Fast 12 Jahre hatte sie es an seiner Seite ausgehalten. Sie war Studentin, als sie Uwe Eichelberg kurz vor seiner Approbation kennenlernte. Er war zwar ein stiller, in sich gekehrter, schüchterner, vielleicht sogar verklemmter Mann, bestach aber durch Intelligenz, beruflichen Ehrgeiz und handwerkliche Fähigkeiten. Streitigkeiten verabscheute Uwe, und wenn sie dennoch aufkamen, zog er sich zurück, zeigte keinen ernsthaften Widerstand und gab stets nach, ohne den Versuch, die eigene Meinung zu bekunden. Doch seine und ihre kulturellen Interessen deckten sich. Und immer war er charmant und treu. Sie verliebten sich und festigten 1969 ihre Beziehung durch ein Ehebündnis. Im gleichen Jahr wurde ihr gemeinsamer Sohn Sven geboren. 1973 bestand Uwe seine Facharztprüfung als Internist und war fortan auf kardiologischem Gebiet tätig.
Langsam kam sie aber zu der Erkenntnis, daß er nicht der Partner sein konnte, den sie sich wünschte, der Stärke zeigte und das Gefühl von Geborgenheit vermittelte. Eher war es umgekehrt: Sie war diejenige, die sein Bedürfnis nach Anlehnung befriedigen mußte.
Als Kardiologe gelangte er schnell zu einem beachtlichen Renommee. Er vergrub sich immer mehr in seine Arbeit und suchte kaum noch Gemeinsamkeiten mit ihr. Einerseits hatte sie manchmal den Eindruck, daß er eine heimliche Beziehung zu einer anderen Frau eingegangen ist, weil er so geheimnisvoll tat und sich immer mehr von ihr entfernte. Andererseits suchte er wieder ihre Nähe und beschwor sie, nicht ohne sie leben zu können. Doch es war bereits zu spät. Längst hatte sie einen Freund, mit dem sie sich auf eine gemeinsame Zukunft einrichtet. Deshalb hatte sie auch die Scheidung eingereicht.
„Glauben Sie, daß die Probleme, über die er angeblich nie sprechen konnte, in Ihrer Ehe begründet liegen?“ fragt Baumgartner.
„Nee, nee, ausgeschlossen! Klar, wir hatten Probleme, aber ich habe ihn nie im unklaren gelassen, trotz meiner Trennung“, reagiert sie sofort und heftig.
„Entschuldigen Sie die delikate Frage, aber wie schätzen Sie das eheliche Intimleben ein, bevor Sie Ihre Trennung realisierten?“ fragt Baumgartner zaghaft weiter.
„Im großen und ganzen ziemlich normal, wenn Sie verstehen, was ich meine“, entgegnet sie.
„Hatte er vielleicht Probleme, bevor Sie ihn kennenlernten?“ will er nun wissen.
„Ja, da war mal was“, überlegt sie, „aber das liegt lange zurück. Er hatte wohl mal einen Nervenzusammenbruch und wurde eine Zeitlang ärztlich behandelt. Die eigentlichen Gründe hat er mir nicht genannt!“
„Trank er Alkohol, nahm er Tabletten, war er gesund?“ erkundigt sich der Kriminalist weiter.
„Tabletten? – Nein! Und Alkohol trank er so gut wie nicht, höchstens mal ein Gläschen Wein in Gesellschaft. Und krank war er auch nicht“, antwortet sie sicher.
„Gab’s dienstliche Schwierigkeiten?“ dringt Baumgartner auf sie ein. „Ich frage das, weil ich immer noch keinen Zugang zu den Problemen finde, die er mit in den Tod nehmen wollte.“
Sie überlegt, sagt dann aber: „Nichts, das ich wüßte. –
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