Ekel / Leichensache Kollbeck
Normverletzung bewußt zu machen, ihr Gewissen anzusprechen, Schuldgefühle zu wecken bzw. Unsicherheit zu erzeugen
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auf die Besonderheiten der einzelnen Kandidaten, auf ihre konkreten Moralnormen, ihr Rechtsbewußtsein, auf ihre charakterliche Feinfühligkeit und Gefühlswelt, auf ihr berufliches Ethos oder ihr Geltungsbedürfnis ausgerichtet sein. Der Einsatz des kompromittierenden Materials hat in Abhängigkeit von seiner Beschaffenheit und der Persönlichkeit des Kandidaten differenziert zu erfolgen durch
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die kompakte Anwendung des kompromittierenden Materials, um in ihrer feindlichen Einstellung verhärteten Kandidaten den Ernst der Lage bewußt zu machen
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die ausgewählte, teilweise Anwendung des kompromittierenden Materials, um damit Impulse zur selbständigen Stellungnahme des Kandidaten zu geben
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den Verzicht auf den direkten Einsatz des kompromittierenden Materials, dessen Vorhandensein die Kandidaten vermuten, um damit die Bereitschaft zur Zusammenarbeit, verbunden mit positiven Haltungen zu den operativen Mitarbeitern zu entwickeln …“
Reichlich neun Jahre sind vergangen. Baumgartner ist längst zum Hauptmann der K avanciert und ins Polizeipräsidium versetzt worden. Seit langem beschäftigt er sich nun mit Todesermittlungssachen. Den Vorgang Dr. Eichelberg hat er längst vergessen. Und wahrscheinlich wäre es so geblieben, wenn nicht ein Zufall seine Erinnerung wieder aktiviert hätte.
Es ist Donnerstag, der 1. Mai 1980. Kampf- und Feiertag der Werktätigen. Baumgartner hat Hausbereitschaft. In ständiger Erwartung eines Einsatzes bewacht er das Telefon. Unterdessen pilgern die Volksmassen, mit roten Papiernelken geschmückt, durch Berlin, die Hauptstadt der DDR, zu ihren vorgeschriebenen Stellplätzen. Dann: Wie aus Kanälen fließen sie aus den Seitenstraßen der Karl-Marx-Allee zu einem gigantischen Strom zusammen, wohlgeordnet nach Betrieben und Arbeitskollektiven. Begleitet von der aus unzähligen Lautsprechern ertönenden Marschmusik wälzt sich der Strom an den Tribünen der Staats- und Parteiführung vorbei. Huldvoll winken die Mächtigen dem Volke zu.
Baumgartner rekelt sich schläfrig auf dem Sofa. Nur hin und wieder wirft er einen gelangweilten Blick auf die Live-Übertragung der Maidemonstration im Fernsehen. Als gegen Mittag die Parade der Kampfgruppen den Massentrubel in der Karl-Marx-Allee abschließt, ist Baumgartner längst eingeschlafen. Er wird erst wieder wach, als die Gattin ihn zu Tisch bittet. Bis in die frühen Abendstunden bleibt er von Polizeiangelegenheiten verschont.
Dann schrillt das Telefon. Der OdH hat einen Auftrag parat: „Männliche Leiche in der Wohnung. Vermutlich Vergiftung. FStW bereits am Tatort, Blankenburg, Bahnhofstraße, Name Eichberger oder so ähnlich!“
Diese Informationen reichen. Baumgartner findet das Haus sofort, weil davor ein Polizist und der grüne Streifenwagen stehen. Artig erstattet der Uniformierte seine Meldung: „Der Einsatz ist 19.12 Uhr über die Funkleitstelle nach telefonischer Anzeige durch den Leichenschauarzt befohlen worden. Die fragliche Wohnung befindet sich im ersten Stock des Zweifamilienhauses. Der Streifenführer der Funkstreife hält sich in der Wohnung bei der Ehefrau des Geschädigten, Dr. Dorle Eichelberg, auf. Bei dem Toten handelt es sich um den Ehemann!“
Durch einen Vorgarten betritt Hauptmann Baumgartner das Haus. Es ist ein altes backsteinrotes Gebäude im Jugendstil. Oben angekommen, stutzt er einen Augenblick. An der mit schwungvollen Ornamenten verzierten Wohnungstür prangt ein messingfarbenes Klingelschild mit den unübersehbaren Lettern eines Namens, der ihm irgendwie bekannt vorkommt: „Dr. med. Uwe Eichelberg“. Noch kann er diesen Namen nicht zuordnen. Doch in den folgenden Minuten wird er sich, trotz aller Konzentration auf seine eigentlichen Aufgaben, immer wieder an ihn erinnern.
Der Streifenführer des Funkwagens, der sich mit VP-Meister Kulak vorstellt, läßt ihn ein und flüstert ihm zu: „Die Ehefrau sitzt im Wohnzimmer, der Leichnam liegt im Zimmer am Ende des Korridors!“ Mit einer Kopfbewegung deutet er an, welche Räume er meint.
„Und ihre Verfassung? Kann man mit ihr reden?“ will der Kriminalist wissen.
Der Uniformierte nickt: „Ja, kann man!“
Baumgartner betritt den ersten Raum. Dort sortiert die Gattin des Verstorbenen irgendwelche Papiere. Sie ist eine schlanke Frau, etwa 40 Jahre alt, mit langem, dunklem Haar, das in der Mitte gescheitelt und am
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