Ekel / Leichensache Kollbeck
Klar, manchmal ließ er seinen Frust ab über die Stroh dreschenden Nichtsnutze aus der Klinikumsleitung. Aber sonst? Er war geachtet, machte Stationsdienst, Ambulanz und forschte.“
„Worüber forschte er denn?“
„Es ging wohl um medizintechnische Sachen, Verbesserung der Ultraschallaufzeichnungen des Herzens und so etwas. Er hatte Verbindung zu westdeutschen und holländischen Kollegen!“
„War er Reisekader?“
„Wie man’s nimmt. In den ersten Jahren durfte er ein paar mal zu Studienzwecken nach Moskau. In den USA, in Japan und Westdeutschland war man inzwischen schon viel weiter. Aber da durfte er nicht hin, obwohl er sich hartnäckig darum bemühte. Doch ungefähr vor drei Jahren klappte es plötzlich …“
Frau Dr. Eichelberg holt tief Luft und betont den nächsten Satz, als würde sie über ein Wunder sprechen: „Er durfte zu einer kardiologischen Tagung in den Westen!“ Dann beklagt sie sich: „Aber merkwürdigerweise war er gar nicht so glücklich darüber. Das habe ich nie verstanden! Er kam zurück, meckerte nur herum, weil er so viele Reiseberichte schreiben mußte. Aber das war doch üblich …“
Baumgartner fällt ihr ins Wort: „Können Sie mir ein früheres Foto Ihres Mannes zeigen?“
Sie blickt ihn erstaunt an, ist aber sofort bereit: „Natürlich, warten Sie!“
Sie holt ein Album und zeigt auf ein Bild: „Hier, da ist Uwe mit unserem Sohn als Säugling.“
Baumgartner starrt auf das Foto, triumphiert innerlich: Ja, das ist er, der Mann mit dem rotbraunen Haar und dem kurzgeschnittenen Vollbart, dessen Akte ihm kommentarlos entzogen wurde. Nun hat er Gewißheit und auch keine Fragen mehr an Frau Eichelberg. Kurzerhand beendet er den Dialog: „Danke, Frau Dr. Eichelberg, ich will Sie nicht weiter belästigen. Bitte kommen Sie in den nächsten Tagen ins Präsidium. Sie müssen das Vernehmungsprotokoll noch unterschreiben!“
Hauptmann Baumgartner hegt keinen Zweifel am Selbstmord des Arztes. Auch was die Klärung der Probleme betrifft, die Eichelberg in seinen, auf dem Tonband konservierten, letzten Worten so geheimnisvoll, orakelhaft andeutete, glaubt er, einen Schritt weiter zu sein. Ihm ist klar, daß nicht allein die ehelichen Konflikte Eichelbergs Lebenswillen demoliert haben können: Immerhin waren da noch die peinlichen exhibitionistischen Vorfälle – ein Geheimnis, das an seiner Seele zehrte. Und da war noch die große Frage, welche Geschehnisse seit dem Jahre 1971, als Baumgartner die Akte über ihn los wurde, das Leben Eichelbergs belasteten.
Baumgartner ist sich sicher: In den zentralen kriminalpolizeilichen Registraturen wird er keinerlei Angaben über Dr. Uwe Eichelberg entdecken. Und würde er im Anzeigentagebuch der VPI-Mitte blättern, stieße er auf einen Eintrag vom 1.7.1971: Anzeige wegen Verstoßes gegen § 124 StGB, Anzeigeerstatterin Hirsemann, Lilo, Verdächtiger Eichelberg, Uwe. Doch durch diese Angaben wird ein akkurater roter Strich gezogen worden sein. Und darüber wird stehen: Anzeige zurückgezogen, kein öffentliches Interesse.
Baumgartner entschließt sich, nicht weiter darüber zu spekulieren und denkt: „Was geht’s mich an. Laß die Toten ruhen! Und überhaupt, es wäre womöglich existenzbedrohend, da weiter nachzugraben!“
Leichensache Kollbeck
Groß Schwansee im Kreis Grevesmühlen ist ein kleines, unbekanntes Fischerdorf westlich der Wismarbucht.
Die nahe Küste ist Sperrgebiet: Betreten und Fotografieren verboten! Bei klarem Wetter sieht man von der Steilküste aus am Horizont die Konturen des Timmendorfer Strandes. Auch die imposanten Fährschiffe der Linie Travemünde-Kopenhagen oder Malmö entgehen dem scharfen Auge des Beobachters nicht. Aber solcherart Blick ist für den DDR-Bürger schädlich, könnte womöglich Fernweh auslösen, und das direkt nach der reaktionären Welt des Kapitals. Deshalb säumen keine FDGB- Urlauberheime, Strandkörbe und Promenaden das Gestade. Statt dessen verkünden an diesem westlichsten Ostseestrand die Militärbastionen der Volksmarine eisernen Verteidigungswillen. Nur dem Küstenschutz der Marine und den anderen volkseigenen Grenzschützern ist der Blick erlaubt, freilich nur, um Grenzverletzungen zu verhindern. Diese Region ist strategisch so sensibel, daß sie auf den Autokarten der DDR erst gar nicht verzeichnet wird.
Mittwoch, den 30. Mai 1962, gegen Mittag. Der Himmel über der Ostsee ist bedeckt. Ab und zu nieselt es. Kalte Böen wehen von Norden her über die Steilküste. In
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