Ekel / Leichensache Kollbeck
die Kreisgrenze hinweg dorthin zur Sektion zu transportieren. Er schlußfolgert: Sie hat bereits so lange Zeit im Wasser gelegen, daß es nun auch nicht mehr auf einen Tag früher oder später ankommt. Deshalb schlägt er Jenning vor, die Obduktion in der Kirche von Kalkhorst vornehmen zu lassen. Dort befinde sich nämlich ein zum Friedhof gehörender, spezieller Raum für die Aufbewahrung von Verstorbenen. Er würde nach Rücksprache mit der Gerichtsmedizin dem dortigen Bürgermeister und dem Pfarrer die Notwendigkeit klarmachen, und er wäre sicher, daß die beiden kooperativ sind.
Ein staatlicher Bestattungsbetrieb aus Grevesmühlen transportiert zwei Stunden später den Leichnam der Unbekannten nach Kalkhorst. Jenning kehrt inzwischen zum VPKA Grevesmühlen zurück, erledigt den notwendigen Papierkram und führt wichtige Telefonate.
Er vermutet richtig, daß durch die Obduktion noch wichtige Details für die Identifizierung der Toten erlangt werden können. Trotzdem müssen die vorhandenen, spärlichen Anhaltspunkte schon jetzt genutzt werden, um die Vermißtenmeldungen der letzten Monate im Zuständigkeitsbereich des VPKA Grevesmühlen, vielleicht sogar des ganzen Küstenbezirks, zu vergleichen. Zum anderen muß die Rostocker Mordkommission in Kenntnis gesetzt werden, denn bis zur endgültigen Klärung der Ursache für das Zustandekommen der Verletzungen am Kopf der Unbekannten kann ein Tötungsverbrechen nicht ausgeschlossen werden. Jenning geht aber auch von der Überlegung aus, die Tote könne womöglich von Dänemark, der Küste Holsteins oder der Insel Fehmarn angeschwemmt worden sein. Dann allerdings wäre sie keine DDR-Bürgerin. Doch das läßt sich erst nach erfolgloser Überprüfung der eigenen Vermißtenmeldungen begründen.
Zwei Tage später soll die gerichtliche Sektion in Kalkhorst durchgeführt werden. Genau so hatte es der Leichenschauarzt vorgeschlagen. Unterdessen drosselt der Leiter der Rostocker Mordkommission die bei manchem Funktionär des VPKA Grevesmühlen aufflackernden, vorschnellen Spekulationen über einen Mordverdacht und mahnt zu kriminalistischer Besonnenheit. Schließlich begründen die Verletzungen am Kopf der Toten beileibe noch keinen Mordverdacht. Sie können ebenso nach dem Tode entstanden sein. Bei dem langen Aufenthalt im Meer müssen erst andere Ursachen ausgeschlossen werden. Aber selbst bei begründetem Mordverdacht wären präzise Ermittlungen erst möglich, wenn man wisse, wer die tote Frau ist. Vorrangig sollen daher erst einmal alle Daten zusammengetragen werden, die ihre möglichst schnelle und sichere Identifizierung ermöglichen. Fazit: Die Mordkommission nimmt sich der Leichensache erst an, wenn die Sektionsergebnisse das erfordern.
Wie angekündigt findet am Vormittag des 1. Juni in der Kirche von Kalkhorst die Leichenöffnung statt. Obduzenten sind der Oberarzt des Gerichtsmedizinischen Instituts Rostock, Dr. Dietz, ein etwas brummig wirkender Endvierziger, und sein junger Assistent Dr. Knie. Unterleutnant Jenning nimmt als Beauftragter des Kreisstaatsanwalts daran teil, um die polizeilichen Aufgaben der Identifizierung wahrzunehmen. Die inzwischen erheblich fortgeschrittenen Leichenerscheinungen erschweren die Arbeit der Männer. Auch erfahrene Untersucher müssen immer wieder gegen den Widerwillen ankämpfen, den der unästhetische Anblick und der üble Geruch eines sich zersetzenden Körpers auslöst. Doch die sachgerechte Untersuchung der Toten erfüllt einen wichtigen Zweck. Sie ist im Interesse der Wahrheitsfindung schließlich der letzte Dienst am Menschen. Jede emotionale Reaktion des Ekels und der Abneigung könnte den objektiven Blick trüben und dazu führen, wichtige Details zu übersehen. Deshalb haben die Männer Verhaltenstechniken entwickelt, mit denen sie ihre Regungen drosseln.
Zunächst wird der Leichnam vermessen, die Körpergröße muß bestimmt werden. Dann werden die Textilreste vom Körper entfernt, inspiziert und geeignete Teile herausgeschnitten, um sie auf einer sogenannten Kleiderkarte zusammenzustellen. Die Untersuchung der Körperoberfläche ergibt, daß die Leiche einige Zeit auf dem sandigen Meeresboden getrieben sein muß: Das verraten starke Schleifspuren an den Händen und am Schädel. Die parallel verlaufenden Kopfverletzungen weisen bei genauer Untersuchung nicht auf ein Verbrechen hin. Sie sind postmortal entstanden und typisch dafür, wenn ein im Wasser treibender Körper von einer rotierenden Schiffsschraube erfaßt
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