Ekel / Leichensache Kollbeck
ursprünglich beide gemeinsam aus dem Leben scheiden? Ermordete er seine Freundin aus niederen Beweggründen und suizidierte sich aus Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen? Oder wollte er sich töten und nahm seine Freundin aus Liebe und Mitleid mit in das Jenseits, um sie nicht allein in der irdischen Realität zurückzulassen?
Noch heute liegt der Schleier eines Geheimnisses über diesem Fall. Ihn endgültig lüften zu wollen, wäre angesichts der mageren Fakten eine törichte Anmaßung. Jedoch kann der folgende Bericht wenigstens eine phänomenologisch erklärbare Variante des möglichen Geschehnisablaufs bieten.
Dieter Fredersdorf, 28, wohnt bei seiner Mutter in Weißenfels, der 41 000-Seelen-Kreisstadt im Saaletal. Viele Weißenfelser rackern in der nahen, DDR-größten Schuhfabrik, die den unpassenden, aber heroischen Namen „Banner des Friedens“ trägt. Auch Dieters Mutter ist dort tätig.
Er ist trotz der jungen Jahre bereits Invalidenrentner: Eine Gehirnerkrankung lähmte seine Beine. Zwar ist deren Bewegungsfähigkeit erheblich eingeschränkt, doch kann er sich dank ständiger neurologischer Betreuung ohne Hilfsmittel gut fortbewegen. Das macht ihn stolz und unabhängig.
Der 29jährigen Freundin Martina, die in Dresden wohnt, hat das Schicksal viel schwerer mitgespielt. Als junges Mädchen erlitt sie einen tragischen Unfall, brach sich die Wirbelsäule, ist seitdem brustabwärts querschnittsgelähmt. Nun ist sie ständig auf die Hilfe anderer angewiesen, kann sich nur im Rollstuhl fortbewegen. Die psychische Krise der Behinderung hat sie jedoch längst überwunden. Alte Eigenschaften sind in ihr Gemüt zurückgekehrt: Heiterkeit und Lebensbejahung. Ihre Liebe gilt Büchern, Schallplatten und der heiteren Muse. Auch sie ist Invalidenrentner, bastelt aber für einen kleinen Nebenverdienst in einer Dresdener Rehabilitationswerkstatt Elektrogeräte zusammen. Die Zukunftspläne, einmal in einer Bücherei zu arbeiten, verliert sie nicht aus dem Auge. Sie beflügeln ihren Lebensoptimismus.
Ihr Freund Dieter ist nebenbei künstlerisch tätig. Er entwirft Bühnenbilder für Theater und Varietés. Das bringt ihm nicht nur manche Mark ein, sondern auch Anerkennung. Die Wände seines Zimmers sind geschmückt mit Urkunden. Ständig erhält er Post von der Konzert- und Gastspieldirektion. Martina achtet ihn, blickt zu ihm auf. Immer ist er freundlich zu ihr. „Auf seine Weise liebt er sie, und auf ihre Weise liebt sie ihn“, sagen die Bekannten.
Dieter prahlt gern, wie sehr sein Talent begehrt wird, hat zuweilen den Hang zu Besserwisserei und Geltungssucht. Doch die Mutter ist ihm gegenüber skeptisch. Sie vertraut ihm nicht und macht daraus keinen Hehl. Ihr permanenter Argwohn scheint ihm zu mißfallen. Er poltert dann so lange herum, bis die Mutter aus purer Schadensbegrenzung wieder kleinbeigibt. Dieter, so glaubt Martina, hat sich innerlich schon lange von seiner Mutter entfernt, erweckt sogar manchmal den Eindruck, sie im Grunde seines Herzens abzulehnen.
Natürlich hat Martina selbst festgestellt, daß Dieters Phantasie bisweilen mit ihm durchgeht. Er kann Sachen zusammenspinnen, die ihm ein anderer nicht abnehmen würde. Dann strotzt er voller Eitelkeit. Sie läßt es gelassen über sich ergehen, doch eigentlich verabscheut sie diese Eigenart. Schweren Herzens nimmt sie diesen Makel in Kauf und erklärt ihn damit, daß einem Künstler irgendeine Verrücktheit anhaften muß, um überhaupt kreativ sein zu können.
Für Martina ist es wichtig, das Verhältnis zu Dieter harmonisch zu gestalten. Die Unternehmungen mit ihm sollen ja auch weiterhin Spaß machen. Kurzum: Trotz seiner Macken mag sie ihn. Inzwischen kennen sie sich beinahe zwei Jahre. Damals hatte Dieter eine Kontaktanzeige in der „Wochenpost“ aufgegeben, auf die sie mit einem netten Brief reagierte. Nach anfänglichem, zaghaftem Briefwechsel trafen sie sich bald, und eine Freundschaft entstand. Jetzt sehen sie sich mindestens zweimal im Monat für ein langes Wochenende. Trotz seiner Gehbehinderung macht es ihm nichts aus, bei ihren gemeinsamen Unternehmungen den Rollstuhl zu schieben. Jetzt kann sie sich ihren kulturellen Leidenschaften hingeben. Kino- und Theaterbesuche, aber auch Ausflüge und die Erkundung der heimatlichen Kunstschätze sind fortan kein Problem mehr.
Eines Tages erhält Dieter einen offiziellen Brief: Ein Schreiben mit dekorativem Briefkopf. Der Intendant des Halleschen Steintor-Varietés am Marx-Engels-Platz bedankt
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