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Ekel / Leichensache Kollbeck

Ekel / Leichensache Kollbeck

Titel: Ekel / Leichensache Kollbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Girod
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Berlin, dem späteren Ministerium des Innern, gesandt. Sie leitet den Vorgang an das Referat III weiter. Es ist die letzte sachkompetente Stelle im bürokratischen Dschungel. Hinter diesem Referat verbirgt sich das Kriminaltechnische Institut, eine moderne naturwissenschaftlich-technische Forschungs- und Expertiseneinrichtung der Polizei, in der auch die Vermißtenmeldungen und die Daten über aufgefundene unbekannte Tote aus der ganzen DDR gesammelt und verglichen werden. Die Überprüfung der offenen Vermißtenfälle bestätigt den Verdacht, daß die Tote keine DDR-Bürgerin sein kann. Dieses Ergebnis wird dem Leiter der Hauptabteilung mitgeteilt. Der verfaßt wiederum ein neues Anschreiben, nun mit ministeriellem Briefkopf, und die Akte wird an die Oberste Staatsanwaltschaft der DDR weitergeleitet, denn nur von dort aus darf die offizielle Anfrage an das Landeskriminalpolizeiamt Kiel erfolgen. Und jede Antwort geht auf gleichem Wege zurück.
    Zentralistische Verwaltungsstrukturen, die kurz nach dem Mauerbau international besonders getrübte politische Großwetterlage und ein übersensibles Sicherheitsempfinden führen folgerichtig zu derlei umständlichen, zeitaufwendigen Prozeduren, die im übrigen bis zum Ende der DDR beibehalten wurden. So werden noch zehn Monate vergehen, ehe die Akte der unbekannten Toten von Groß Schwansee geschlossen werden kann.
    Zäh fließen die Informationen von hüben nach drüben. Und das, obwohl bereits am 27. Oktober 1962 das Landeskriminalpolizeiamt Kiel ein Schreiben übersendet: Die mitgeteilten Daten über die unbekannte Tote von Groß Schwansee stimmen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit denen der 54jährigen Gerda Grete Kollbeck aus Lübeck-Travemünde überein – eine mit dem Lehrer Dr. Arnold Kollbeck verheiratete Hausfrau, die in den Abendstunden des 4. November 1961 beim Verlassen des Hauses letztmalig gesehen wurde und seitdem als vermißt gilt. Ihrem Gatten hat sie einen Abschiedsbrief hinterlassen, aus dem hervorgeht, sich aus Gründen einer schweren Herzkrankheit das Leben nehmen zu wollen.
    Allerdings war Frau Kollbeck gläubige Katholikin. Und nach der katholischen Moraltheologie ist der Suizid eine schwere Versündigung gegen die Liebe und Gnade Gottes. Seit Jahrhunderten schon versagt die katholische Kirche dem Suizidenten deshalb eine kirchliche Bestattung. Die geweihte Erde wird dem „Sünder“ schlichtweg vorenthalten. Doch keine noch so strenge religiöse Verurteilung hindert letztlich den Selbstmörder an seinem Vorhaben, sie kann hingegen nur zur Verstärkung depressiver Verstimmungen beitragen. Deshalb hat die katholische Moraltheologie keine hemmende Wirkung auf die Suizidalität: So z. B. nimmt die Suizidrate in Österreich, einem Land mit überwiegend katholischer Bevölkerung, in Europa einen der vordersten Plätze ein
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    Erst im Jahre 1983 (!) hob der Vatikan mit dem Codex Iuris Canonici das Verbot auf, Suizidenten nicht kirchlich bestatten zu lassen. Doch die allgemeine Stigmatisierung des Suizids ist dadurch noch lange nicht aufgehoben
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    In der prostestantischen Kirche hingegen gilt die liberale Auffassung: Ein Urteil über den Suizidenten ist allein Gott vorbehalten. Statt dessen werden die Gläubigen aufgefordert zu überprüfen, ob sie am Selbstmord des Betreffenden mögliche Mitschuld trifft
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    Die marxistisch-leninistische Philosophie der DDR ging von der These aus, daß allein Selbstmorde von Geisteskranken unvermeidlich sind. Andere depressive Verstimmungen und Gefühle von existentieller Einengung führen statt dessen nur dann in den Suizid, wenn sie dem Selbstlauf überlassen würden. Doch „die der sozialistischen Gesellschaft innewohnenden Potenzen für psychische Gesundheit und Psychohygiene, die in der sozialistischen Kollektivität und Leitungstätigkeit und in der marxistisch-leninistischen Weltanschauung enthalten sind“, können erfolgreich genutzt werden, die Suizidalität zu hemmen. Freilich: Die hohe Suizidrate in der DDR hat die Wirkungslosigkeit dieser „Potenzen“ hinlänglich bewiesen
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    Die Lübecker Polizei fügt ihrem Schreiben den kompletten Zahnbefund bei, den Frau Kollbecks langjähriger Zahnarzt, Dr. Henze, auf Bitte der Kripo erhoben hat. Er stimmt mit dem Zahnstatus der unbekannten Toten überein. Nun dürfte es eigentlich keine Zweifel mehr an der Identität der Toten mit der vermißten Frau Kollbeck geben.
    Doch die bürokratischen Mühlen zwischen Ost und West stehen noch lange nicht still:

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