Ekel / Leichensache Kollbeck
erklärt er geheimnisvoll.
Martina ist völlig verwirrt, stützt sich mit den Händen ab und richtet sich etwas auf, um sein Gesicht zu sehen, und entrüstet sich energisch: „Fängst du wieder mit deinem Blödsinn an? Dann will ich morgen nach Hause!“
„Das ist kein Blödsinn“, entgegnet er ernst. „Es geht um Leben und Tod. Wir hatten ausgemacht, daß ich dir morgen alles erkläre.“
Völlig verständnislos sinkt Martina wieder in die Kissen zurück und schweigt. Sie denkt, was ist das bloß für ein Mensch, der nichts anderes im Kopf hat als seine Lügengeschichten.
Am nächsten Morgen entdeckt sie auf dem kleinen Tisch zwei Briefumschläge. In der Tat: Der eine ist an den sowjetischen Geheimdienst in Moskau adressiert und bereits akkurat verschlossen. Der andere trägt die Anschrift von Dieters Mutter und ist noch nicht zugeklebt. Ein beschriebener Papierbogen steckt darin.
„Willst du’s lesen?“ fragt Dieter, als er ihr Interesse bemerkt.
„Wenn du möchtest“, sagt sie zurückhaltend.
Er fingert das Papier aus dem offenen Umschlag und überreicht es Martina: „Aber nur den! Der andere ist nichts für dich“, schränkt er ein, in dem er auf den bereits verschlossenen Brief zeigt.
Martina liest den kurzen Text: „Liebe Mutti, im Falle meines Ablebens bitte ich dich um Weiterleitung des beigefügten Briefes! Dein Sohn Dieter“
Martina schaut Dieter mit großen Augen an. Das alles ist ihr zu viel. Sie fühlt sich von den seltsamen Geschichten, die er immer wieder bereithält, überrumpelt, eingeengt und völlig überfordert. Der Gedanke, Dieter könne in irgendeine schlimme Sache verwickelt sein, macht ihr Angst. Sie will etwas sagen, doch er fällt ihr ins Wort: „Es ist halb so schlimm. Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wenn wir morgen in Oberhof sind, wirst du alles verstehen!“
„Du wolltest heute mit mir sprechen“, beklagt sie sich.
„Laß uns in die Stadt fahren, morgen in Oberhof weißt du alles. Es ist eine lange Geschichte. Unterwegs werde ich beginnen“, kündigt Dieter die Einlösung seines Versprechens an. Martina hört ihm nur mit halbem Ohr zu. Diese Wichtigtuerei widert sie an. Ziemlich gelassen gibt sie zu verstehen, daß es ihr genaugenommen gleichgültig ist, ob, wann und über was er sie unterrichten wolle.
Dieter wendet sich wie geistesabwesend von ihr ab und geht zum Telefon, das neben seinem Bett steht. Dann telefoniert er mit seiner Mutter. Seine Stimme ist leise und zittert. Er wirkt angespannt und niedergeschlagen. Martina hält sich taktvoll zurück. Doch aus den Wortfetzen, die sie aufschnappt, schließt sie: Zwischen Mutter und Sohn muß etwas vorgefallen sein, denn er entschuldigt sich mehrmals und versichert, sie müsse sich künftig keine Sorgen mehr machen.
Martina kann nicht wissen, daß es bei dem Dialog mit der Mutter um den Gelddiebstahl geht. Sie beobachtet Dieter, während er telefoniert, wie ein Psychoanalytiker. Kühl und distanziert wertet sie jede seiner Gesten. Es steht fest: Sie wird sich von ihm trennen.
Als er den Hörer wieder aufgelegt hat, steckt er den geheimnisvollen Brief an den sowjetischen Nachrichtendienst zusammen mit dem ebenso geheimnisvollen Anschreiben in den Briefumschlag an seine Mutter, verschließt diesen sorgfältig und läßt ihn in seiner Manteltasche verschwinden.
Nach dem Frühstück verläßt das Paar das Hotel, um die spätherbstliche Stadt zu besichtigen. Martina entgeht nicht, daß Dieter den Brief an seine Mutter später irgendwo in einen Postkasten steckt.
Dieter schiebt Martinas Rollstuhl vor sich her durch das Menschengewühl. Schweigend betrachtet Martina die restaurierten Fassaden der Bürgerhäuser. Nur einmal sagt sie: „Auch ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen“, worauf Dieter ungewöhnlich barsch entgegnet: „Ich kann mir schon denken, was kommt!“ Martina dirigiert ihn kreuz und quer durch die Stadt. Bereitwillig folgt er ihren Anweisungen. Als er eine Pause einlegen möchte, verlangt sie, wieder ins Hotel zurückgefahren zu werden. Dieter ist dies recht. Wenig später lümmelt er auf seinem Hotelbett und hängt seinen Gedanken nach, während Martina im Rollstuhl am Fenster sitzt und den Erfurter Stadtführer studiert.
Nach einer Weile des Schweigens fragt Dieter sie plötzlich, ob sie nun bereit wäre, seine Geschichte anzuhören. Mit einer demonstrativen Geste legt sie den Stadtführer beiseite und gibt zu verstehen, daß er beginnen könne. Was nun folgt, ist eine rührselige und
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