Ekel / Leichensache Kollbeck
Ohren. Inständig appelliert er an ihre Geduld. Gerade jetzt, wo er das letzte Projekt abgeschlossen habe, fiele er in ein tiefes seelisches Loch, wenn sie nicht mit ihm in den Urlaub fahren würde. Er habe ihr noch so viel zu sagen.
Martina ist einverstanden, will einen letzten Versuch wagen. Auch sie beabsichtigt, ihm eine Menge zu sagen. Und erfreut kündigt Dieter an, mit ihr eine Woche lang nach Thüringen zu reisen. Wenige Tage später läßt er für die Zeit vom 1. bis 8. November ein Zimmer im Erfurter Interhotel reservieren.
Kurz vor Urlaubsbeginn macht Martina eine merkwürdige Entdeckung: Sie findet in Dieters Zimmer sorgsam versteckte Druckschablonen. Mit ihnen kann man durch einfaches Abreiben der Buchstaben gestochen scharfe Schriften herstellen. Es sind Schrifttypen, die ihr bekannt vorkommen. Ihr entgeht auch nicht, daß die Urkunden an der Wand auf diese Weise hergestellt sein müssen. Und ein böser Verdacht setzt sich in ihrem Hirn fest: Dieter hat womöglich diese Urkunden, vielleicht sogar die Briefe der Konzert- und Gastspieldirektion und des Steintor-Varietés selbst verfaßt. Sie ist tief enttäuscht: Geht seine Spinnerei schon soweit, daß er sich mit solchen Federn schmücken muß, um sein Image aufzumöbeln? Martina schluckt den Groll hinunter und nimmt sich vor, im Urlaub Dieter auch deshalb zur Rede zu stellen. Alles will sie ihm sagen, was sie seit vielen Monaten belastet, auch, daß sie ihn fortan nicht mehr so oft sehen möchte.
Erfurt, am Abend des 1. November 1971. Zielbewußt steuert Dieter Fredersdorf den Rollstuhl mit Martina Baerwaldt über den Bahnhofsvorplatz in Richtung des dem Bahnhof gegenüberliegenden Interhotels „Erfurter Hof“. Dieser Platz weckt Erinnerungen. Ein reichliches Jahr vorher skandierten nämlich dort Tausende Erfurter lauthals ihr bedeutungsvolles „Williii, Williii!“ Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, und der Vorsitzende des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik, Willi Stoph, trafen sich in der Nobelabsteige am Bahnhof zu einem kurzen politischen Schlagabtausch. Wenn dieser auch wie ehedem das Hornberger Schießen verlief, hatte dieses Ereignis doch große historische Dimensionen: Niemals in der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik strömten die Massen so freudig-spontan zusammen, um dem Genossen Stoph auf so herzliche Weise ihren Gruß zu entbieten …
Eine halbe Stunde später richten sich Martina und Dieter in ihrem Hotelzimmer so gut es geht häuslich ein, um bald im Restaurant fürstlich zu dinieren. Dieter hat erstaunlich viel Geld bei sich. Ein gutes Honorar, verkündet er stolz. Martina kann nicht wissen, daß er vor der Abreise nach Erfurt die Mutter heimlich um mehrere hundert Mark erleichterte.
„Morgen will ich mir die Stadt angucken, Anger, Fischmarkt, Krämerbrücke und so weiter“, wünscht sich Martina.
Dieter ist einverstanden, ergänzt aber die nächsten Pläne: „Und am Mittwoch fahren wir nach Oberhof. Wir nehmen uns ’ne Taxe. Ich habe da nämlich was zu tun!“
Martina blickt ihn erstaunt an: „Was heißt, ich habe da zu tun?“ „Das erkläre ich dir später“, versucht er sie zu beruhigen.
„Jetzt haben wir Urlaub, und jetzt sollst du mir das sagen, was schon lange nötig ist!“ fordert Martina energisch.
Dieter überlegt einen Augenblick, dann sagt er: „Das hat was mit meinen Aufträgen zu tun. Aber laß uns morgen darüber sprechen“, bittet er sie.
Doch sie läßt nicht locker. „Du meinst, mit deiner Bühnengestaltung?“ fragt sie spitz und tut so, als würde sie ihm diese Geschichte noch glauben.
Er nickt unsicher.
„Spiel mir doch kein Theater vor!“ entrüstet sie sich. „Ich weiß längst, daß du die Urkunden und Briefe selbst schreibst. Kannst du mir erklären, was das soll?“
Dieter ist perplex. Eine solche Attacke hat er von Martina nicht vermutet. Er sackt in sich zusammen und bittet sie kleinlaut: „Laß es mich morgen erklären, bitte!“
„Meinetwegen, aber vergiß es nicht“, schließt Martina das Thema ab.
Spät abends, als Dieter Martina gewaschen und ins Bett bugsiert hat, setzt er sich an den kleinen Tisch des Hotelzimmers und kramt in irgendwelchen Papieren, die er mitgebracht hat. „Was machst du noch?“ fragt Martina müde.
„Ich muß noch etwas Wichtiges schreiben“, antwortet er leise.
„Schlaf du nur!“
„An wen mußt du jetzt schreiben?“
„Es ist ein Brief an den sowjetischen Nachrichtendienst“,
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