Ekel / Leichensache Kollbeck
vorbei, als Mario Sage von Bezirksstaatsanwalt Dr. Treuburg als Beschuldigter vernommen wird. Das Geständnis des jungen Mannes wird immer präziser. Er schildert, wie er die Leiche des Jungen in Höckerstellung in den Koffer preßte, seine Kleidung dazulegte und aus Angst, aus dem Koffer könne Blut tropfen, die Lücken mit alten Zeitungen ausstopfte. Gegen 18 Uhr sei er dann mit dem Koffer zum Hauptbahnhof gefahren und habe den nächsten Personenzug nach Leipzig genommen. Auf zwei Bahnhöfen habe der Zug unterwegs gehalten, ehe er vor Leipzig unbemerkt ein Fenster herunterlassen und den Koffer hinauswerfen konnte. Von Leipzig aus sei er dann mit dem nächsten Zug nach Halle zurückgekehrt. Die Tatwerkzeuge ließ er in einem Müllbehälter vor dem Wohnblock verschwinden.
Die nächsten Wochen dienen den Ermittlern zur Vervollständigung der Beweismittel.
Selbst unwesentliche Widersprüche in Mario Sages Aussagen sucht Noll auszuräumen, zumindest aber zu erklären. Bei der Vielzahl der Zeugenvernehmungen, Gutachten und Aussagen des Beschuldigten über den Mord an einem unschuldigen kleinen Jungen, der menschliche Empfindungen in höchstem Maße aufwühlt, ist es durchaus verständlich, wenn sich nicht alle Einzelheiten decken. Schließlich hat die Zeit die Erinnerung verblassen lassen, konzentriert sich subjektives Empfinden auf unterschiedliche Fakten. So weiß Mario Sage nicht mehr genau, wie viele Male er auf sein Opfer eingestochen und welche Körperregionen er dabei getroffen hat. Zu groß war seine sexuelle Erregung in jenem Moment, zu gewaltig die Angst nach der Tat, entdeckt zu werden, so daß er die unangenehmsten Gedächtnisinhalte rasch verdrängt hat. So bleibt manche gutachterliche Aussage auf die Feststellung beschränkt, daß die wissenschaftlichen Befunde zumindest nicht im Widerspruch zu den allgemeinen Schilderungen des Tatablaufs stehen.
Komplizierter ist indes die Frage, inwieweit Mario Sages soziale und sexuelle Entwicklung das Tatgeschehen beeinflußt haben. Eine schlüssige Antwort auf diese Frage könnte Marios strafrechtliche Verantwortlichkeit mindern, nämlich dann, wenn eine schwerwiegend abnorme Entwicklung der Persönlichkeit von Krankheitswert nachgewiesen werden kann. Das zu ergründen, sind die forensischen Psychiater aufgerufen.
Mario Sage wird ausgiebig begutachtet. Das nachteilige Familienklima, in dem er heranwuchs, ebnete ihm den Weg in die verhängnisvolle Zurückgezogenheit, in der auch abnorme sexuelle Phantasien von ihm Besitz ergriffen, Phantasien, die von tödlicher Gewalt und demütigender Unterwerfung beherrscht waren. Sie füllten ihn gänzlich aus und deformierten sein gesamtes ethisches Empfinden. Seine Sexualität mutierte schließlich zu einem ihn völlig beherrschenden Triebdruck, der die bittere Realität des Mordes erklärt. Doch wäre Mario Sage intellektuell und psychisch durchaus imstande gewesen, sich mit seinem Sexualerleben kritisch auseinanderzusetzen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Trotz heftigster Erregung verlor er nie den Überblick über die Situation, als er sich mit dem kleinen Lino Brandt allein in der Wohnung befand. Er verfügte über Mechanismen, die ihm eine ausreichende Außenkontrolle gestatteten.
Die zweifellos schwerwiegende Entwicklung hatte nie eine solche Intensität erreicht, hieß es, die die Entscheidungsfähigkeit während der Tat erheblich vermindert hätte. Gegen diese Schlußfolgerung richtete sich Marios spätere Berufung. Sie wurde jedoch als unbegründet zurückgewiesen.
Mario Sage wurde vom Bezirksgericht Halle wegen Mordes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Dann wurde es schnell still um den Fall Lino Brandt. Nolls Einsatzgruppe war lediglich noch eine Zeit lang damit beschäftigt, die – wie es das Gesetz forderte – nicht tatrelevanten Unterlagen des Falls zu vernichten. Wieviel davon allerdings in den Datenspeichern der Staatssicherheit verschwand, ist ungewiß.
Oberleutnant Noll avancierte bald zum Chef der Kriminalpolizei in einem VPKA des Bezirkes Halle, während, so erzählte man hinter vorgehaltener Hand, Hauptmann Scherzer in ein kleines Provinznest strafversetzt wurde, weil er einen seiner Vorgesetzten im Affekt geohrfeigt haben soll.
Der Hilfssheriff vom Friedrichshain
(Aktenzeichen 111/73 VP-Inspektion Berlin-Friedrichshain)
Im Stadtbezirk Berlin-Friedrichshain verläuft, parallel zur Frankfurter Allee in Richtung Lichtenberg, die
Weitere Kostenlose Bücher