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Ekel / Leichensache Kollbeck

Ekel / Leichensache Kollbeck

Titel: Ekel / Leichensache Kollbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Girod
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einbezogen, durften die Hausbücher kontrollieren und Sprechstunden des ABV abhalten.
    Der ABV hingegen war ein Offizier der mittleren Laufbahn, dessen polizeiliche Tätigkeit auf ein festgelegtes Territorium, den sogenannten Abschnitt, begrenzt war. Ihm oblagen alle Angelegenheiten der allgemeinen Ordnung und Sicherheit. Seine eingeschränkten strafprozessualen Kompetenzen gestatteten es ihm, Ordnungswidrigkeiten und kleine Straftaten selbständig zu bearbeiten. Er unterhielt enge Kontakte zu den Leitern der Betriebe, Geschäfte, Schulen, Organisationen und zu den ehrenamtlichen Funktionären der Wohngebiete (Sekretäre der Wohnparteiorganisationen, Vorsitzende der Wohnbezirksausschüsse der Nationalen Front). Er überprüfte die Hausbücher, wachte über vermeintlich kriminell Gefährdete und bereits Gestrauchelte, leitete die Freiwilligen Helfer an, regelte ihre Einsätze und stand den Bürgern seines Abschnitts regelmäßig in öffentlichen Sprechstunden Rede und Antwort.
    Eine solche Tätigkeit entsprach den Ambitionen Rainer Brunks. Am liebsten wäre er richtiger Polizist geworden, aber ihm fehlte die geforderte Mittlere Reife.
    Mit 19 Jahren wurde er zur NVA einberufen. Unterordnung nahm er bereitwillig in Kauf. Er hielt sie für den einzigen Weg, um künftig selbst unterordnen zu können. Er erfüllte alle Normen der körperlichen Ertüchtigung, überwand mit Bravour die Hindernisse der gefürchteten Sturmbahn, war ein gestrenger Stubenältester und wurde bald Gruppenführer. Damit war er der kleine Kommandeur über neun Soldaten. Doch das kasernierte Leben zwang ihm zu große Belastungen auf. Es gab keinen abgeschiedenen, sicheren Ort, um allein zu sein und den heimlichen Phantasien freien Lauf zu lassen. Deshalb schlug er das Angebot einer Unteroffizierslaufbahn aus, die das unbeliebte kasernierte Dasein nur verlängert hätte.
    Wenn er Ausgang hatte, folgte er dem absonderlichen Ehrgeiz, sämtliche Kneipen im Standortbereich kennenzulernen, auch die, deren Besuch für Militärangehörige untersagt war. In zwielichtigen Lokalen suchte er den Kontakt mit leichtlebigen, garnisonsbekannten Damen, die ihm seine ersten coitalen Erfahrungen verschafften. Dennoch trieb ihn die Gier nach sexueller Befriedigung auch manchmal auf Kinderspielplätze, um kleine Mädchen sexuell zu belästigen. Und niemand gebot seinem unheilvollen Treiben Einhalt.
    Auch in der DDR ging ein Gespenst unter den Müttern um, das Gespenst des sexuellen Mißbrauchs ihrer Kinder. Es wurde genährt durch die weitgehende Tabuisierung des Problems, die mangelnde offizielle Aufklärung über Begehungsweisen und Prävention sowie die völlig unzureichenden Veröffentlichungen der Kriminalstatistik.
    In den siebziger Jahren lag die durchschnittliche Belastungsziffer für Sexualdelikte in der DDR bei 19,4, wovon 11,8 auf den sexuellen Mißbrauch entfielen. In den Altbundesländern lag die Ziffer für den gleichen Zeitraum bereits bei 35,0, 24,0 entsprachen dabei dem sexuellen Mißbrauch. Obwohl die DDR damit wesentlich günstiger abschnitt, ließ die SED-Führung aus politisch-ideologischer Verklemmung und falsch verstandener Wachsamkeit eine breite Aufklärungskampagne nicht zu. Das Problem wurde bestenfalls zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen.
    Doch solcherart statistische Angaben sagen nichts über das tatsächliche Ausmaß der sexuellen Übergriffe aus. Nur ein Bruchteil gelangte zur Anzeige, nur ein Bruchteil dessen führte zur Anklage, nur ein Bruchteil wiederum endete mit einer Verurteilung. Polizei und Gericht befanden sich – wie auch heutzutage allenthalben in der Bundesrepublik festzustellen ist – in permanenter Beweisnot. Ein wichtiger Grund dafür liegt darin, daß in den weitaus meisten Fällen der Täter dem Opfer bekannt, wenn nicht sogar mit ihm verwandt ist, und auf der Opferseite die Verpflichtung zum Schweigen und auf der Seite des Täters der Eigennutz eine totale Sprachlosigkeit begründen, die mitunter das ganze Leben andauern kann.
    Rainer Brunk konnte sich mit ziemlicher Sicherheit darauf verlassen, daß die mißbrauchten Kinder seinen Einschüchterungen folgen und schweigen. So hielt sich die Angst vor Entdeckung in Grenzen, zumal er tunlichst darauf bedacht war, sich dem Blick möglicher Zeugen zu entziehen.
    Als seine Armeezeit im Sommer 1972 beendet war, meldete er sich alsbald wieder bei seinem ABV zum Helfereinsatz. Nun hatte er wieder einen höchst offiziellen Anlaß, in Parkanlagen, Hinterhöfen oder

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