Ekel / Leichensache Kollbeck
Scharnweberstraße, ein städtebaulich unrühmliches Erbe des vorigen Jahrhunderts mit erdrückenden Mietskasernen und düsteren Hinterhöfen. Von angloamerikanischen Bomben und sowjetischen Granaten im Krieg schwer beschädigt und während der Arbeiter- und Bauernmacht baulich aufs Gröbste vernachlässigt, erinnert dieser morbide Kietz an eine ruhmlose Vergangenheit.
An jeder Kreuzung eine Kneipe. Zigarettenrauch und Küchendunst dringen auf die Straße. Das Glas Bier kostet achtzig Pfennig, Bockwurst mit Kartoffelsalat erhält man für eine Mark sechzig. Serviert wird ein abgegriffenes, amalgamfeindliches Alubesteck, das man sich mundgerecht zurechtbiegen muß.
Unverwüstliches Holperpflaster nötigt den Trabifahrer zum behutsamen Kutschieren. Anderenfalls wäre ein Schütteltrauma für Mensch und Technik die logische Folge. So erübrigt sich eine Geschwindigkeitsbegrenzung in dem dichtbesiedelten Wohngebiet. Kaum jemand wagt, schneller als dreißig zu fahren.
Dort also, in der Scharnweberstraße, genauer zwischen Colbe- und Kinzigstraße, hat der 21jährige Rainer Brunk sein Zuhause: Stube, Küche, Innenklo und noch dazu im Vorderhaus. Das alles für 28 Mark Miete, ganz für sich allein, ohne das ständige Einmischen der Mutter in sein Leben. Der Lohn als Maler und Anstreicher ist bescheiden. Manchmal bessert er ihn inoffiziell auf, wenn er am Wochenende privat malert und tapeziert. Seine tägliche Schachtel „Juwel“ und ein paar Bier kann er sich allemal leisten.
Den Vater lernte er nie kennen. Er starb, als Rainer zwei Jahre alt war. Die Mutter erzog ihn allein und streng, ohne System, abhängig von ihrer Stimmung. Im Sturm heftiger Erregung brüllte sie herum. Er fand für ihre Attacken oft keine Erklärung, zog sich als Kind aber schon von ihr zurück. Vor anderen folgten seinen Undiszipliniertheiten ellenlange Litaneien moralischer Belehrung. In der Stille der Wohnstube jedoch mußte er erhebliche körperliche Züchtigungen hinnehmen.
Die Mutter arbeitet als Näherin in einer Wäschefabrik. Sie geht ihren eigenen Weg. Der Sohn sieht sie nur selten, hat großen inneren Abstand zu ihr. Früher war er unter ihrem Druck äußerlich ängstlich und fügsam, obwohl sein Trotz wuchs. Schon als Kind wollte er etwas sein, Autorität ausüben, wenigstens in der Klasse. Doch seine Leistungen blieben unter dem Durchschnitt. Auf diesem Wege ging es also nicht. So profilierte er sich bei den „Jungen Pionieren“ und wurde bald ein wichtiger Funktionär in der Klasse. Seine zur Schau getragene politische Entschiedenheit verschaffte ihm alsbald den ersehnten Respekt. In der Klasse gab er sich als hundertprozentig, heimlich genoß er das verpönte Westfernsehen. Wenn er in Wut geriet, konnte er hemmungslos um sich schlagen. Jähzorn empfand er als Stärke. Zuhause jedoch verfiel er in lähmende Angsthaltung. Er liebkoste seine Kuscheltiere, doch zu echter menschlicher Bindung fehlte es ihm an emotionaler Stabilität. Mit dem Erwachen sexueller Regungen begann er, exzessiv zu masturbieren, oft mehrmals am Tag. In seinen Phantasien spielten dabei ganz junge Mädchen eine zentrale Rolle. Bald nahm ihn seine Sexualität so in Anspruch, daß sie später neben gelegentlichen alkoholischen Ausschweifungen der einzige Freizeitinhalt blieb.
So ist es bis heute, obwohl er eine gleichaltrige Freundin besitzt. Niemand vermutet, daß er sich gelegentlich auf Spielplätzen herumtreibt, um Kinder sexuell zu mißbrauchen. Eingeschüchtert wahren sie das abscheuliche Geheimnis.
Mit seiner Volljährigkeit bewarb er sich bei der Volkspolizei als sogenannter Freiwilliger Helfer. Und weil er in der Pionierorganisation immer eine gute Figur gemacht hatte, gab es keine Bedenken. Er wurde einem Abschnitt des VP-Reviers Proskauer Straße zugeteilt.
Freiwillige Helfer der Volkspolizei und der Grenztruppen waren ehrenamtliche Hilfspolizisten mit hohem gesellschaftspolitischen Stellenwert. Nach dem Modell der sowjetischen Miliz strukturiert und von Abschnittsbevollmächtigten, kurz ABV, geführt, ausgestattet mit einem Ausweis, der ihnen eingeschränkte polizeiliche Vollmachten verlieh, äußerlich kenntlich durch eine rote Armbinde mit Polizeiemblem, nahmen sie Aufgaben des schutzpolizeilichen Streifendienstes, in Berlin vorwiegend in der sogenannten Tiefensicherung der Staatsgrenze zu Westberlin wahr, führten Verkehrsüberwachungen und -regelung und die technische Überprüfung von Kraftfahrzeugen durch, wurden in Fahndungsmaßnahmen
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