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Ekel / Leichensache Kollbeck

Ekel / Leichensache Kollbeck

Titel: Ekel / Leichensache Kollbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Girod
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Bevölkerung rührt und daher deren Bereitschaft, der Polizei zu helfen, ungleich leichter mobilisiert als Gesinnungsdelikte wie Republikflucht, Staatsverleumdung oder Hetze.
    Noll und seine Mitarbeiter wissen nicht, daß die Schriftexperten der Stasi an der Komplettierung eines computergestützten Verfahrens zum Wiederauffinden von Handschriften basteln. Natürlich streng vertraulich. Da bietet sich der Fall Lino Brandt direkt an, die bisherigen Erkenntnisse heimlich zu testen. So ist es also zu verstehen, daß das MfS der Hallenser MUK großzügige Unterstützung bei der Schriftfahndung zusagt. Die politische Großwetterlage bietet dazu den passenden Anlaß.
    Die Hoffnung, der ausgestellte Koffer würde bald von einem zuverlässigen Zeugen wiedererkannt werden, erfüllt sich nicht. Zwar erreichen ihn viele Hinweise zu dem vermeintlichen Besitzer des Koffers, doch bei näherer Prüfung erweisen sie sich allesamt als falsch. So vergehen die Wochen.
    Ungeduld und Mißmut breiten sich in den politischen Führungsetagen der VP aus. Die Befürchtung wächst, es könne nicht gelingen, den Erfolgsgabentisch des X. Parteitags mit der Aufklärung des Falls Lino Brandt zu bereichern. Noch immer ist der Tatort nicht bekannt, ist kein einziger Verdächtiger ermittelt.
    Doch unbeirrt läßt Noll die Untersuchungen weiterführen, auch wenn seine Einsatzgruppe täglich weiter schrumpft, weil die Kräfte wieder abgezogen werden, wie es im Dienstjargon heißt.
    Ein Experte der Sektion Kriminalistik der Berliner Humboldt-Universität entwickelt ein hypothetisches Persönlichkeitsprofil des unbekannten Täters, aus dem man hofft, neue Ermittlungsansätze ableiten zu können. Da man bisher nicht überzeugend nachzuweisen vermochte, daß Lino tatsächlich die Filmveranstaltung besucht hat, muß auch in Betracht gezogen werden, daß ihn der unbekannte Täter bereits vor Beginn des Films in seiner Gewalt gehabt haben könnte. Aus dem Verpackungsmaterial, der Art der Leichenbeseitigung und dem Fundort schließt er ferner, daß Lino Brandt an einem Ort getötet worden ist, an dem die Verpackungsutensilien dem Täter direkt zur Verfügung standen. Daß die Tat im Freien verübt wurde, schließt er daher aus.
    Oberleutnant Noll wirft ein riesiges Schleppnetz der Überprüfung über Halle, Halle-Neustadt und den gesamten Saalekreis aus. Nahezu einhundert Personen, die zur Familie Brandt auf diese oder jene Weise in Beziehung stehen, rund zweihundert polizeilich registrierte Homosexuelle und Pädophile, mehr als zweihundertfünfzig vorbestrafte Sittlichkeitsdelinquenten und über eintausend Personen, die regelmäßig in der Umgebung des Versorgungszentrums am Kino anzutreffen sind, geraten in die Maschen und müssen ein Alibi nachweisen. Doch trotz aller Anstrengungen stellt sich der ersehnte Erfolg nicht ein. Der Täter bleibt unbekannt und unerkannt.
    Am Freitag, dem 27. März, etwa zwei Wochen vor dem SED-Parteitag, wird Noll zu einer Berichterstattung beim Chef seiner Bezirksbehörde zitiert. Anscheinend hat Berlin Druck auf den General ausgeübt. Er benötige Argumente, warum Nolls Mannschaft den Fall noch nicht aufgeklärt habe, und fordere, nachdem er sich mit der SED-Bezirksleitung und seinem Amtsbruder von der Staatssicherheit abgestimmt habe, die zeitaufwendigen Massenüberprüfungen weitgehend einzustellen. Statt dessen sollen die Ermittlungen auf die Schriftfahndung konzentriert werden. Oberleutnant Noll beklagt den nunmehrigen Mangel an Kräften seiner Einsatzgruppe, und der General sichert ihm eine großzügige Verstärkung zu. Beide sind sich darüber im Klaren, daß sich der Ermittlungsprozeß hinziehen werde.
    So ist die Einsatzgruppe in den nächsten Monaten mit der Beschaffung von Vergleichshandschriften ausgelastet. Hunderte Polizisten, freiwillige Polizeihelfer und MfS-Mitarbeiter gehen in Halle-Neustadt „auf Klingeltour“, um Schriftproben von meist braven Untertanen einzuholen. Die Schriftexperten hatten nach den Merkmalen der Buchstaben aus den Kreuzworträtseln einen unverfänglichen Text verfaßt, der den Probanden kurzerhand diktiert wird:
    „Ein zweitägiges Kolloquium, das am Dienstag in Berlin begann, befaßt sich mit Karl-Friedrich Schinkels Werk und dessen Bedeutung für die DDR.“
    Fast 21 000 Schriftproben liefern die überwiegend kooperativen Bürger. Hartnäckige Weigerer werden registriert. Ihre Vergleichsschriften beschafft die Stasi auf konspirativem Wege. Auf Geheiß der SED-Bezirksleitung

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