El Camino Amable
dafür haben wolle. Ich puste bloß, mache eine wegwerfende Bewegung mit der Hand und stehe auf. Als ich dann in der Küche bin, warte ich, aber sie kommt nicht. Ich fange an, meine Nudeln zu kochen und hole mir aus dem Restaurant eine Flasche Wein dazu. Dann ist irgendwann mein Essen fertig und ich gehe das Mädel suchen, finde es aber nicht. Na gut, dann nicht, vielleicht war ich zu kurz angebunden. Vielleicht hätte sie eine herzliche Einladung gebraucht. Schade.
Als ich mit dem Essen fertig bin und trotz der Kälte draußen sitzen bleibe, kommt sie doch noch vorbei und holt sich die restlichen zwei Portionen Nudeln aus der Küche. Während sie isst, mustere ich sie unauffällig: groß, mager, fast kahl rasierter Kopf mit einem Muster in den rasierten Stoppeln. Sie futtert wie ein junger Wolf. Zwischen der ersten und der zweiten Portion hält sie mir kurz die Hand hin und murmelt: „Sdenka.“ Ihr Name. Aus „Tschek“. Tschechische Republik. Anschließend erzählt sie in sehr gebrochenem Englisch. Sie ist mit dem Bus gekommen — aus Prag. Sie hat für den Camino Zeit bis zum 28. August. Das ist viel zu lange bei dem wenigen Geld, das ihr zur Verfügung steht. So zu buchen war aber am billigsten.
An der Grenze nach Deutschland ist sie als Einzige zur Personenkontrolle aus dem Bus geholt worden. Vielleicht hat man Drogen bei ihr vermutet. Wegen der kurzen Haare. Sie lächelt dabei, nimmt es nicht übel. Dann erzählt sie weiter, dass sie bis gestern mit Freunden gewandert ist, die sie auf dem Camino kennengelernt hat. Einer davon hat ihr gestern noch einmal den Kopf rasiert. Er wollte ihr gern ein Muster hineinrasieren. Da hat sie sich eine Muschel gewünscht. Nur eine Muschel. Und er hat rasiert. Sie nimmt wieder ihren Strohhut mit der Jakobsmuschel ab und zeigt mir ihren Hinterkopf. Da ist ein Labyrinth aus Linien in den Stoppeln zu sehen, aber beim besten Willen keine Muschel. Ich mag es ihr nicht sagen und lächle bloß. Sie isst voller Stolz weiter. Dann erzählt sie noch, dass sie mit 16 Kilo Gepäck läuft: Zelt, Kochutensilien, dicker Schlafsack - sie hat alles dabei. So braucht sie nicht in den Herbergen zu übernachten und es wird auf diese Weise billiger. Ich schenke ihr den restlichen Wein und gehe beeindruckt schlafen. Dabei denke ich noch daran, dass einige Wanderer die Waschanleitungen aus den T-Shirts getrennt und die Zahnbürste halbiert haben, um Gewicht zu sparen!
9. Tag
Belorado—San Juan de Ortega
Das Frühstück habe ich heute Morgen in der Herberge bestellt und es ist wirklich gut: Orangensaft, Milchkaffee, ein halbes Baguette mit Käse. Als ich kurz nach sieben losgehe, ist es nicht mehr so kalt wie gestern. Der Tag ist klar, der Himmel blau mit einigen Schleierwolken, ein kühler Wind weht und die Landschaft ist richtig schön. Es ist hügelig, ich laufe durch Weizenfelder, durch die ab und zu der Wind rauscht. Nach zwei Stunden habe ich einen steilen Anstieg hinter mir und schaue über bewaldete Hügel, so weit das Auge reicht. Inzwischen blüht tief lilafarbenes Heidekraut am Wegesrand und es geht durch einen lang gezogenen Wald. Ich bin jetzt 1200 Meter hoch.
Auf dem Camino gibt es immer etwas geschenkt: die Blumen am Weg, einen kühlen Lufthauch in der Hitze des Tages, blauen Himmel, etwas Sonnenschein, keine Schmerzen im rechten Fuß... Etwas davon zum Freuen gibt es wirklich immer. Die Schmerzen im linken Fuß sind auch erträglich, beim Abwärtsgehen allerdings schwerer zu ertragen. Na ja, man kann nicht alles haben.
Die heutigen 25 Kilometer sind wirklich abwechslungsreich, werden mir zum Schluss aber doch recht lang — mal wieder die verflixten letzten drei Kilometer. Ich freue mich, dann endlich im Kloster San Juan de Ortega anzukommen, auch wenn der Schlafsaal und die Duschen wieder einen recht primitiven Eindruck machen.
Während ich so sitze und schreibe, kommt Gila, die ich am Abend in Puente la Reina kennengelernt habe, auf mich zu. Wir freuen uns, einander wieder zu sehen. Seit Annabel am Freitag zurück nach Frankreich gefahren ist, läuft sie allein und fragt, ob wir nicht gemeinsam gehen wollen. Ich weise auf meinen lädierten Fuß, denn ich habe keine Ahnung, ob ich mit jemandem Schritt halten kann.
Wir beschließen, am Abend noch in die Messe im hiesigen Kloster zu gehen. Es ist wieder eine Pilgermesse, die auch recht gut besucht ist. Der alte Pfarrer liest aus seinem dicken Buch, er sieht schwer krank aus, ein anderer betagter Pfarrer blättert für ihn
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