El Chapo - Beith, M: Chapo - The Last Narco
erledigten, und mussten daraufhin feststellen, dass sich ihre eigenen Leute gegen sie wandten, um größeren Einfluss zu erlangen.
Die mexikanische Drogenindustrie war kein kriminelles Unternehmen mehr, um Profite zu erzielen. Plötzlich ging es nur noch darum, zu töten oder getötet zu werden. Es entstand eine düstere, schlammige Welt des Misstrauens, in der die Fantasien blühten und das Geld zum letzten Maß der Dinge avancierte. Manchen Schätzungen zufolge sollen in Mexiko bis zu vierzig Milliarden Dollar pro Jahr umgesetzt worden sein. 156
Als das neue Jahrtausend anbrach, hatten die Mexikaner die Kolumbianer endgültig aus dem Rampenlicht verdrängt. Thomas Constantine beschrieb die mexikanischen Narcos als »bedeutende Kraft im internationalen organisierten Verbrechen« und machte darauf aufmerksam, dass sie »den Drogenhandel entlang der gesamten US-mexikanischen Grenze sowie in zahlreichen US-Städten kontrollieren«. 157
Zudem hatten die Ereignisse von 1993 zur Folge, dass Chapo zum einen für seine Niedertracht berüchtigt wurde, aber auch einen fast mythischen Kultstatus erlangte, der ihn auf eine Stufe mit dem Narco-Heiligen Malverde stellte. In den folgenden zwei Jahrzehnten sollte er diesen Status nach Kräften ausbauen. Selbst im Gefängnis wuchs der Mythos, weil immer
neue Legenden entstanden, nach denen er im Gefängnis wie ein König lebte. Indes wurden entlang der Grenze immer wieder neue Tunnel entdeckt. 158
Seine Flucht schließlich wurde immer dann erwähnt, wenn jemand – egal ob Krimineller oder nicht – die mexikanischen Behörden verhöhnen oder beschämen wollte. War er vor 1993 nur »ein Narco unter vielen« gewesen, wie es der erfahrene sinaloensische Journalist Ismael Bojórquez ausdrückte, so verwandelte ihn seine Flucht aus Puente Grande endgültig in den Medien-Narco, dem alle zu Füßen lagen. 159
Und Chapo, der die Medien verachtete und für Publicity nichts übrighatte, schaffte es weiterhin, seinen Gegnern und Konkurrenten immer eine Nasenlänge voraus zu sein.
»Dieser Typ ist einer der cleversten, die Mexiko je hervorgebracht hat«, meinte José Luis Santiago Vasconcelos, ein leitender Staatsanwalt der Abteilung Organisiertes Verbrechen, kurz bevor er 2008 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, den viele Chapo zuschrieben. Zu den Opfern dieses Absturzes zählte auch der mexikanische Innenminister.
»Er steckt immer an den geheimsten Orten. Ist immer gut geschützt. Er gibt sich als Mann des Volkes, der die Probleme der kleinen Leute versteht und ihnen Geld und andere Dinge zukommen lässt. Aber man sollte ihn nicht wie einen Helden behandeln. An seinen Händen klebt das Blut zahlloser Opfer und ihrer Familien.« 160
Doch diese Worte stießen bei Millionen von Mexikanern auf taube Ohren, weil sie Chapo weiterhin als modernen Robin Hood romantisierten, dem es immer wieder gelang, eine Regierung zu übertölpeln, der sie misstrauten. Doch als immer mehr Blut floss und immer mehr Familien Opfer zu beklagen hatten, wurden die Anstrengungen der Regierung, Chapo zur Strecke zu bringen, verbissener. Und auch seine Gegner wollten bald nichts mehr als seinen Kopf. Die Schlinge um ihn zog sich von Tag zu Tag enger zu.
6
Das Schicksal herausfordern
Selbst als der Wolkenbruch einsetzte, konnte man die letzten Nachtschwärmer, die von den Feiern zum Unabhängigkeitstag übrig geblieben waren, noch laut singend und Obszönitäten johlend durch die Straßen von Badiraguato nach Hause wanken hören. Manche setzten sich auch betrunken hinters Steuer und fuhren in Schlangenlinien davon. Zur Erleichterung der Stadtväter und der unbeteiligten Bewohner hatten die Feiernden eine friedliche Party erlebt, bei der es keine Gewalttätigkeiten und nicht eine einzige Schießerei gegeben hatte.
Zwar war gegen 21 Uhr am Rande der Plaza eine Horde einheimischer Narcos aufgetaucht, die zusammen mit den anderen Bewohnern Badiraguatos das Konzert der traditionellen Bandas verfolgte, doch hatte sie keinen Ärger verursacht. Einige waren allenfalls junge Halbstarke, die sich so kleideten wie die harten Jungs, zu denen sie einmal gehören wollten.
Eine Gruppe von Müttern, die ebenfalls an der Plaza zusammenstand, verfolgte argwöhnisch, wie ein junger Narco die Hand eines hübschen, vielleicht vierzehnjährigen Mädchens packte, das trotz seines Alters bereits Stilettos, ein rückenfreies Top und ein kurzes Röckchen trug. Die langen Nägel waren sorgfältig lackiert, und der Glitter auf dem
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