El Chapo - Beith, M: Chapo - The Last Narco
Zeitverschwendung gewesen. Deshalb sorgte Chapo – oder »El Señor«, wie einige ihn verehrungsvoll nannten – dafür, dass seine Männer sich umhörten. Die Täter waren schnell gefunden, und Chapos Männer luden sie vor dem Polizeirevier ab.
Als diverse Male die Gewalt in Badiraguato und Culiacán außer Kontrolle zu geraten drohte, soll Chapo eingeschritten sein und mit den verfeindeten Parteien geredet haben. Beruhigt euch, soll er ihnen bedeutet haben, ihr erregt zu viel Aufmerksamkeit. Wenn ihr nicht aufhört, werden wir
für Ruhe sorgen. Er und El Mayo sollen in Culiacán sogar höchstpersönlich die Eltern junger Übeltäter aufgesucht haben.
Geschichten über Chapos Art, für Recht und Ordnung zu sorgen, gibt es im Überfluss. Einige klingen wahr, andere weit hergeholt. 174
Einmal soll ein junger Mann aus Versehen den Wagen von Chapos Nichte gestohlen haben. Chapo schickte seine Schläger aus, die dem Jungen die Hände abhackten. 175
Doch heute, sagen die Einheimischen, sei alles anders. Die blutigen Rivalitäten haben ihren Tribut gefordert, und die militärische Präsenz in der Region hat die Spannungen nur noch erhöht. Schießereien sind an der Tagesordnung, und die jungen Narcos haben keinen Respekt vor dem Gesetz, manche widersetzen sich sogar Chapos Befehlen.
Ein zwölfjähriger Junge kommt herüber und zeigt auf eine Kreuzung, die die Kirche von Badiraguato vom Bürgermeisteramt trennt. »Da haben sie neulich einen kleinen Jungen erschossen«, sagt er bedrückt.
Die Polizei hat keine Kontrolle mehr über die Situation. 176
2006 wurde der stellvertretende Polizeichef von Badiraguato erschossen, offenbar, weil er es gewagt hatte, einen jungen Narco zu verhaften. Ein paar Monate darauf wurde das städtische Gefängnis von einer Killertruppe überfallen, die einen der ihren befreien wollte. Die Polizei ließ sie widerstandslos ziehen. David Díaz Cruz, der damalige Polizeichef, war sich bewusst, dass er wenig dagegen ausrichten konnte; er hatte nicht einmal genügend Macht, um sich um kleinere Fische zu kümmern.
»Selbst wenn ich sie im Verdacht habe, dass sie im Laden an der Ecke Drogen verkaufen«, sagt er, »kann ich nicht gegen sie ermitteln.« 177
Die Narcos, besonders solche wie Chapo, werden immer noch von vielen bewundert, und sei es nur aus Furcht. Außerdem
gibt es in Culiacán ein Sprichwort, das besagt: »Besser fünf Jahre wie ein König (Rey) leben als ein Leben lang wie ein Ochse (Buey).«
Und die Jugend von Sinaloa lebt in der Tat nach diesem Motto. 178
Sinaloa nimmt in der mexikanischen Statistik der von Männern zwischen achtzehn und neunundzwanzig begangenen Morde regelmäßig den ersten Platz ein.
Die Polizei des Bundesstaates nimmt es zur Kenntnis, mehr aber auch nicht. Ähnlich wie die Regierung, die den Drogenkonsum beständig mit »dem Bösen« assoziiert, versucht auch Sinaloas Polizeichefin Josefina de Jesús García Ruíz seit ihrem Amtsantritt, eine moralische Position zu verfechten.
García Ruíz betont, dass Kinder und Jugendliche geordnete Verhältnisse und Familienwerte bräuchten, wenn man verhindern wolle, dass sie dem Drogenhandel anheimfielen. Sie wirkt ernst und entschlossen, ein bisschen wie eine Lehrerin: »Die jungen Leute hier wollen alle wie Chapo sein. Er hat das, was zählt, denken sie. Geld, Macht, Frauen, Waffen. Aber diese Haltung müssen wir ändern. Wir müssen unsere Kinder lieben und fördern, nicht missbrauchen und schlagen, damit sie nicht anfangen, das Leben zu hassen.«
Die Todesrate spricht nicht gerade für ihre Position, die Mehrheit der jungen Menschen scheint sehenden Auges den Tod anzusteuern. In Sinaloa sind Drogen die einzige Möglichkeit, Erfolg zu haben. Und mit einer Regierung, die sich wenig darum kümmert, und einer Wirtschaft, die kaum jemandem eine Chance eröffnet, ist es kein Wunder, dass die älteren Narcos die am meisten respektierten Stützen der Gesellschaft darstellen. Während die Politiker sich großzügig aus der Staatskasse bedienen und ihren Versprechen über eine Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens keine Taten folgen lassen, haben die sinaloensischen Narcos Schulen und Krankenhäuser gestiftet sowie Kirchen und sogar Privatfamilien
finanziell unterstützt. Die Einheimischen fühlen sich deshalb verpflichtet. 179
Eine Gruppe von Teenagern sitzt vor einem Schuhladen in der Nähe des Marktplatzes von Badiraguato und überlegt, ob sie über diese offensichtliche Ironie offen sprechen sollen. Auf
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