El Chapo - Beith, M: Chapo - The Last Narco
genug.
Leichen wurden auf den Straßen abgeladen, ohne Rücksicht darauf, dass Kinder sie auf dem Weg zur Schule zu Gesicht bekamen. Teilweise wurden die toten Körper enthauptet oder mit heruntergelassenen Hosen und verschnürten Füßen ausgestellt, um den beschämenden Anblick von Genitalien zu bieten. Gelegentlich baumelten die Opfer der Nacht auch an Brücken und Autobahnüberführungen, wo die Pendler morgens auf dem Weg zur Arbeit vorbeifuhren. An viele Leichen waren Botschaften geheftet, in denen die Gegnerschaft gewarnt oder die Verantwortung für den Mord übernommen wurde.
Das blutige Gemetzel war unmöglich zu ignorieren. Die Behörden hofften, die Bürger würden früher oder später ihrem Unmut Luft machen und sich nicht willenlos dem mit Terror erzwungenen Narco-Frieden unterwerfen. Immerhin hatte der öffentliche Aufschrei über den Narco-Terrorismus in Kolumbien dazu beigetragen, Pablo Escobar zu stürzen. Vielleicht würde es auch in Mexiko dazu kommen. Der Generalstaatsanwalt rief die Öffentlichkeit dazu auf, ihren Beitrag zu leisten und sich dort, wo es möglich war, gegen das organisierte Verbrechen zur Wehr zu setzen und die Schuldigen anzuzeigen. »Wir hoffen, dass die Menschen sich erheben und sagen: ›Es reicht!‹«, erläuterte ein US-amerikanischer Drogenbekämpfer. 311
Ciudad Juárez besitzt seit der Gründung im 17. Jahrhundert den Ruf, eine Schmugglerhochburg und ein Sündenpfuhl zu sein. Anfang des 20. Jahrhunderts zudem als Stützpunkt für die revolutionären Truppen Pancho Villas dienend, scheint dieser Ort Gesetzlose und Aufständische magisch anzuziehen. Während der Prohibition in den USA war Cuidad Juárez für die Besucher aus dem Norden eine der bevorzugten Städte, wo man alles tun konnte, was auf der anderen Seite der Grenze verboten war. 312
Doch selbst wenn es gute Nachrichten für Ciudad Juárez gab, ließen die schlechten nicht lange auf sich warten. Kurz
nach dem Boom der Maquilladoras, der Fertigungsfabriken, verschwanden plötzlich Frauen, die dort arbeiteten. Ihre Leichen wurden in Erdlöchern und an abgelegenen Plätzen gefunden, viele von ihnen waren vergewaltigt worden. Die Reden von umfassenden Ermittlungen erwiesen sich als leere Versprechungen. Mehr als vierhundert Frauen fielen einem oder mehreren Serienmördern zum Opfer. Massengräber, die außerhalb der Stadt angelegt wurden, sind die einzige Erinnerung an die Opfer.
In Ciudad Juárez und Umgebung suchen die Erinnerungen an die Morde noch immer das kollektive Bewusstsein heim. In den Schaufenstern der Brautausstatter haften an den Hochzeitskleidern und Schleiern Bilder und Flugzettel, die an die Vermissten erinnern.
»Helft uns, sie zu finden«, steht auf einem der Zettel. Dann folgen die Namen: »Lidia Abigail Herrera Delgado, 13, zuletzt gesehen am 3. April 2007. Adriana Sarmiento Enrique, 15, zuletzt gesehen am 18. Januar 2008. Carmen Adriana Peña Valenzuela, 15, zuletzt gesehen am 4. April 2008.« Einige der Aufrufe reichen bis ins Jahr 1994 zurück. Manche sind vom Tag zuvor. 313
Eines Samstagabends im Jahr 2009 trieb ein aus vier Armeefahrzeugen bestehender Konvoi im von Verbrechen heimgesuchten Viertel Rancho Anapra sechzehn Personen zusammen. Dieses Gebiet gilt als Hochburg der »Los Aztecas«, der meistgefürchteten Gang der Stadt. Tausende ihrer Mitglieder sollen aus Rancho Anapra stammen. Ursprünglich arbeiteten alle Aztecas für das Juárez-Kartell, inzwischen ist aber ein Teil zu Chapo übergelaufen und hat so dafür gesorgt, dass das Morden und Blutvergießen noch schlimmere Ausmaße angenommen hat.
Ist Ciudad Juárez an sich schon eine furchteinflößende Stadt, so ist Rancho Anapra ihr düsterster und gefährlichster Bezirk. An einem Hügel gelegen, überwiegen die Hütten die ebenfalls meist nur eingeschossigen Häuser bei weitem. Oft
sind sie aus Materialien gebaut, die von den nahe gelegenen Schrottplätzen stammen. Fließend Wasser gibt es nicht, die Elektrizität stammt von angezapften Hochspannungsleitungen.
Das Leben in Rancho Anapra ist brutal und praktisch ohne Wert. Ein Großteil der Bewohner arbeitet in den Maquilladoras, dennoch ist die Arbeitslosenrate hoch. Seit den neunziger Jahren wurden in Rancho Anapra Dutzende von Mädchen und jungen Frauen umgebracht, und auch heute sind Morde an der Tagesordnung. Oft liegen die Leichen tagelang auf den ungepflasterten staubigen Straßen. Niemand wagt es, die Polizei zu rufen und sich dadurch in Lebensgefahr zu bringen.
Die
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