El Chapo - Beith, M: Chapo - The Last Narco
inzwischen die vollständige Kontrolle über Ciudad Juárez übernommen, die mexikanische Stadt, die am meisten unter dem Drogenkrieg zu leiden hatte. 308 Seit Chapo versuchte, Ciudad Juárez zu übernehmen, sah sich die Stadt einem nicht enden wollenden Blutvergießen ausgesetzt. Zwischen 2003 und 2008 waren dreitausend Menschen in der Stadt ums Leben gekommen. Die Präsenz von mehr als fünftausend Soldaten und Federales hatte nicht ausgereicht, um das Blutvergießen einzudämmen. Allein 2008 Starben mehr als 1600 Menschen eines gewaltsamen Todes. Ein Jahr später waren es bereits mehr als 2600. 309
Die Soldaten sahen sich einem mächtigen und unnachgiebigen Feind gegenüber. Die Drohungen gegen Díaz Reyes’ Männer wurden für die Armeeangehörigen und Bundespolizisten
in Ciudad Juárez zum Alltag. Der Augenzeugenbericht über bewaffnete Männer in einem Geländefahrzeug stellte sich zwar als falsch heraus, aber die Drohungen über Funk waren real. Der Krieg in den Straßen, der seit zwei Jahren zwischen rivalisierenden Gangs und Narcos tobte, zog nun auch Armee und Polizei in seinen Strudel. Waren sie früher einfach in eine im Aufruhr begriffene Stadt einmarschiert, um binnen kurzer Zeit Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, gerieten sie nun in Städten wie Ciudad Juárez, Culiacán und Tijuana ins Kreuzfeuer.
In Ciudad Juárez war der Wandel nur allzu offensichtlich. Vor den Türen der Polizeireviere, in denen die Armee Quartier genommen hatte, waren provisorische Sandsackwälle errichtet worden, die Schutz vor Attacken mit Handgranaten und Panzerfäusten bieten sollten. Mit schwerer Artillerie ausgerüstete Soldaten bewachten die umliegenden Straßen, zudem waren auf den Dächern Scharfschützen postiert. Sämtliche Patrouillen – auch normale Streifenfahrten – wurden nun von Soldaten durchgeführt.
Die Tatsache, dass der Krieg – und damit ihre Rolle darin – eine neue Wendung genommen hatte, blieb den Armeeangehörigen, von denen viele kaum dem Jungenalter entwachsen waren, nicht verborgen.
Nach der Drohung gegen das Revier im Delicias-Viertel von Ciudad Juárez wirkte der neunzehn Jahre alte Soldat Pablo Antonio Maximus verschreckt. Das Gewehr an die Brust gepresst, unterhielt er sich nervös lachend mit einem anderen Soldaten, der mit ihm unter einer Straßenlaterne stand, ehe er mich um eine Zigarette bat. »Das ist ein ganz normaler Samstagabend in Juárez«, erklärte er und ließ das Feuerzeug aufflammen. »Eigentlich rauche ich nicht. Aber ab und zu zünde ich mir eine an. Wegen des Adrenalins.« 310
Doch die Drohungen waren nicht nur eine »Demonstration der Stärke«, wie Díaz Reyes es ausdrückte, sie zeigten auch,
wie einfach die Sicherheitsvorkehrungen der Armee »geknackt« werden konnten. Die Razzien gegen die Gangs wurden bis zum letzten Moment geheim gehalten – Díaz Reyes hatte seine Männer wie in der Armee üblich erst zehn bis fünfzehn Minuten vor dem Einsatz informiert. Dennoch wussten die Drogenhändler über das militärische Prozedere Bescheid und hatten ihre Botschaft genau im richtigen Moment übermittelt.
Am nächsten Tag erreichte ihn eine neue Drohung, diesmal zur Mittagessenszeit, und Díaz Reyes ging davon aus, dass noch weitere folgen würden: »Die wissen genau, was wir tun.«
Die Bewohner der drogenproduzierenden Regionen wie Sinaloa inszenierten heftige Proteste gegen die Präsenz der Militärs. Nachdem vier offensichtlich unschuldige Menschen in Santiago de los Caballeros erschossen worden waren, marschierten die Einwohner von Badiraguato aus der Sierra hinunter nach Culiacán, um gegen das Militär zu demonstrieren – und für Chapo. Der allgemeine Tenor war, Chapo sei nur ein örtlicher Geschäftsmann, »unser unschuldig verfolgter Patron«.
Ähnliche Proteste wurden in der gesamten nördlichen Grenzregion organisiert, von Ciudad Juárez über Matamoros bis hinunter in das Industriegebiet von Monterrey. Die Regierung behauptete, die Demonstranten seien von den einheimischen Banden bezahlt worden, aber in Wahrheit hatten sie es einfach satt, unter der Fuchtel der Armee zu leben.
Trotzdem würden wohl die meisten Mexikaner zugeben, dass dieser Zustand immer noch besser war, als mit dem permanenten Geruch des Todes zu leben, der über ihren Städten und Dörfern lag. Ciudad Juárez und andere des Blutvergießens überdrüssige Städte erinnerten längst an den Wilden Westen oder, wie manche Reporter meinten, an Bagdad – und die Menschen hatten
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