Elantris
Jahrzehnte lang hatte sie ein Land geliebt, ohne je das Gefühl zu haben, dass diese Liebe erwidert wurde. In Teod hatte man sie respektiert, aber sie war es leid, respektiert zu werden. Von Arelon wollte sie etwas anderes.
»Das werden sie, Sarene«, versprach Ashe. »Gebt ihnen Zeit. Sie werden es.«
»Danke, Ashe«, sagte Sarene mit einem leisen Seufzen. »Danke, dass du die Klagen eines törichten Mädchens erduldest.«
»Vor Königen und Priestern können wir stark sein, Mylady«, erwiderte Ashe, »aber zu leben heißt, Sorgen zu haben und unter Unsicherheit zu leiden. Wenn man sie für sich behält, werden sie einen ganz bestimmt zerstören - und einen verhärmten Menschen zurücklassen, in dessen Herz kein Gefühl mehr Wurzel schlagen kann.«
Mit diesen Worten schwebte das Seon aus dem Fenster und machte sich auf die Suche nach Meala.
Als Meala eintraf, hatte Sarene sich wieder gefangen. Geweint hatte sie nicht, nur eine Zeit lang nachgegrübelt. Manchmal war ihr alles einfach zu viel, und ihre Unsicherheit gewann die Oberhand. In solchen Zeiten waren Ashe und ihr Vater immer für sie da gewesen und hatten sie unterstützt.
»Oh je«, sagte Meala mit einem Blick auf das Zimmer. Sie war dünn und recht jung - ganz gewiss nicht, was Sarene erwartet hatte, als sie in den Palast gezogen war. Meala erinnerte sie eher an eine der Beraterinnen ihres Vaters als an eine Wirtschafterin.
»Es tut mir leid, Mylady«, entschuldigte Meala sich mit einem matten Lächeln. »Daran hatte ich gar nicht gedacht. Wir haben heute Nachmittag ein weiteres Mädchen verloren, und ich habe ganz vergessen, dass sie unter anderem auch für Euer Zimmer zuständig gewesen ist.«
»>Verloren<, Meala?«, erkundigte Sarene sich besorgt.
»Weggelaufen, Mylady«, erklärte Meala. »Sie dürfen eigentlich nicht gehen, denn wir sind vertraglich gebunden, genau wie all die Kleinbauern. Aus irgendeinem Grund fällt es uns jedoch schwer, Dienstmädchen im Palast zu halten. Domi weiß warum! Kein Dienstbote im ganzen Land wird besser behandelt als die Diener hier.«
»Wie viele habt ihr verloren?«, fragte Sarene neugierig.
»Sie war dieses Jahr die vierte«, sagte Meala. »Ich werde auf der Stelle jemanden heraufschicken.«
»Nein, lass es für heute Abend gut sein. Sorge nur dafür, dass es nicht noch einmal vorkommt.«
»Selbstverständlich, Mylady.« Meala machte einen Knicks.
»Danke.«
»Da ist es wieder!«, rief Sarene aufgeregt und sprang aus dem Bett.
Sofort erstrahlte Ashe in seinem vollen Glanz. Unsicher schwebte er in der Nähe der Wand. »Mylady?«
»Still!«, befahl Sarene. Sie presste das Ohr unter ihrem Fenster an die Steinmauer und lauschte dem kratzenden Geräusch. »Was meinst du?«
»Ich meine, dass Mylady wohl ihr Abendessen nicht bekommen ist«, bemerkte Ashe kurz angebunden.
»Da war ganz sicher ein Geräusch«, sagte Sarene, ohne auf die spöttische Bemerkung zu achten. Obwohl Ashe morgens immer schon wach war, wenn sie aufstand, mochte er es gar nicht, nach dem Einschlafen gestört zu werden.
Sie griff nach einem Fetzen Pergament, der auf ihrem Nachttisch lag. Darauf markierte sie etwas mit einem dünnen Stück Kohle, da sie sich nicht die Mühe machen wollte, Federhalter und Tinte zu benutzen.
»Sieh nur«, erklärte sie und hielt Ashe das Blatt Papier entgegen. »Die Geräusche treten immer an den gleichen Wochentagen auf: MaeDal und OpeDal.«
Ashe kam herbeigeschwebt und warf einen Blick auf das Papier. Abgesehen vom Sternenlicht war sein leuchtendes Aon die einzige Lichtquelle in dem Zimmer. »Ihr habt es zweimal am MaeDal und zweimal am OpeDal gehört, insgesamt viermal«, sagte er skeptisch. »Das ist wohl kaum aussagekräftig genug, um zu verkünden, dass sie »immer an den gleichen Tagen auftreten<, Mylady.«
»Ach, du glaubst ja sowieso, dass ich Gespenster höre«, sagte Sarene und legte das Pergament zurück auf ihren Nachttisch. »Ich dachte, Seonen sollen über ein ausgezeichnetes Gehör verfügen.«
»Nicht wenn wir schlafen, Mylady«, erwiderte Ashe, dessen Unterton besagte, dass das genau das war, was er in diesem Augenblick tun sollte.
»Es muss hier einen Geheimgang geben«, entschied Sarene und klopfte erfolglos die steinerne Wand ab.
»Wenn Ihr es sagt, Mylady«
»Ja, das tue ich.« Sie erhob sich und betrachtete das Fenster. »Sieh dir nur an, wie dick der Stein um das Fenster herum ist, Ashe.« Sie lehnte sich gegen die Mauer und streckte den Arm aus dem Fenster. Es gelang ihr kaum, mit den Fingerspitzen
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