Elantris
fragte Hrathen scharf. »Wen hast du zu deinem Odiv gemacht?«
»Ein paar Leute, mein Hroden«, erwiderte Dilaf ausweichend.
»Namen, Arteth.«
Und er begann sie aufzuzählen. Die meisten Priester beriefen ein oder zwei Odive, etliche Gyorne hatten sogar zehn. Dilaf hatte über dreißig. Hrathens Verblüffung wuchs, während er lauschte. Seine Verblüffung und seine Wut. Irgendwie hatte Dilaf es fertiggebracht, Hrathens nützlichste Anhänger zu seinen Odiven zu machen - einschließlich Waren und vielen anderen Adeligen.
Nachdem Dilaf sämtliche Namen aufgezählt hatte, senkte er den Blick verräterisch demütig zu Boden.
»Eine interessante Liste«, sagte Hrathen langsam. »Und wen gedenkst du mitzunehmen, Arteth?«
»Na, alle, Mylord«, sagte Dilaf gedehnt. »Wenn dieser Brief so wichtig ist, wie Mylord sagen, muss ich dafür sorgen, dass er ausreichend beschützt wird.«
Hrathen schloss die Augen. Wenn Dilaf all die Leute mitnahm, die er erwähnt hatte, würden Hrathen keine Anhänger mehr bleiben - gesetzt den Fall, dass sie tatsächlich alle mit Dilaf reisten. Odiv zu sein war eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Die meisten normalen derethischen Gläubigen, sogar viele Priester, wurden auf die weniger freiheitsbeschränkende
Stellung des Krondeten eingeschworen. Ein Krondet hörte auf den Rat seines Hrodens, war jedoch nicht moralisch verpflichtet zu tun, wie ihm geheißen wurde.
Es lag durchaus in Dilafs Macht, von seinen Odiven zu verlangen, ihn nach Fjorden zu begleiten. Hrathen hatte keinerlei Mitspracherecht dabei, was der Arteth mit seinen eingeschworenen Anhängern tat. Es wäre eine grobe Verletzung des Protokolls, wenn er Dilaf befehlen würde, sie zurückzulassen. Doch wenn Dilaf sie tatsächlich mitzunehmen versuchte, würde es ohne Zweifel zur Katastrophe kommen: Diese Männer waren erst kürzlich zum Shu-Dereth gestoßen und ahnten nicht, wie viel Macht sie Dilaf übertragen hatten. Wenn der Arteth versuchen sollte, sie nach Fjorden zu schleppen, wäre es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie ihm folgen würden. Und damit wäre Hrathen gezwungen, jeden einzelnen von ihnen zu exkommunizieren, und der Shu-Dereth in Are- Ion wäre am Ende.
Dilaf fuhr mit seinen Vorbereitungen fort, als habe er Hrathens inneren Kampf nicht bemerkt. Allerdings war es kein allzu heftiger Konflikt, denn im Grunde wusste Hrathen, was er zu tun hatte. Dilaf war unberechenbar. Möglicherweise würde er seine Drohung nicht wahr machen, aber es war genauso wahrscheinlich, dass er Hrathens Anstrengungen aus gehässigem Vergeltungswillen zunichte machen würde.
Hrathen biss die Zähne zusammen, bis ihm der Kiefer schmerzte. Zwar war es ihm gelungen, Dilafs Versuch aufzuhalten, den Elantrier zu verbrennen, doch der Arteth hatte offensichtlich vorhergesehen, was Hrathens nächster Schritt sein würde. Nein, Dilaf wollte nicht nach Fjorden. Er mochte unberechenbar sein, aber er war auch viel besser vorbereitet, als Hrathen angenommen hatte.
»Warte«, befahl Hrathen, als Dilafs Bote sich zum Gehen wandte. Wenn der Mann die Kapelle verließ, wäre alles ruiniert. »Arteth, ich habe meine Meinung geändert.«
»Mein Hroden?«, fragte Dilaf, der den Kopf aus seiner Kammer steckte.
»Du wirst nicht nach Fjorden reisen, Dilaf.«
»Aber Mylord ...«
»Nein, ich komme nicht ohne dich aus.« Die Lüge drehte Hrathen den Magen um. »Finde jemand anderen, der die Nachricht überbringen soll.«
Mit diesen Worten wirbelte Hrathen herum und schritt steifbeinig auf seine Gemächer zu.
»Ich bin wie immer der ergebene Diener meines Hrodens«, flüsterte Dilaf. Die Akustik in dem Saal trug die Worte direkt an Hrathens Ohren.
Wieder einmal floh Hrathen.
Er musste nachdenken, musste seinen Kopf frei bekommen. Er hatte mehrere Stunden in seinem Arbeitszimmer geschmort, wütend sowohl auf Dilaf als auch auf sich selbst. Letzten Endes hatte er es nicht länger ausgehalten und hatte sich deshalb in die nächtlichen Straßen von Kae geflüchtet.
Wie gewöhnlich lenkte er seine Schritte auf die Mauer von Elantris zu. Er sehnte sich nach Höhe, als würde es die Dinge in die richtige Perspektive rücken, wenn er hoch über den menschlichen Behausungen thronte.
»Ein paar Münzen übrig, Herr?«, flehte eine Stimme.
Überrascht blieb Hrathen stehen. Er war so zerstreut gewesen, dass er den in Lumpen gekleideten Bettler zu seinen Füßen gar nicht bemerkt hatte. Der Mann war alt und sah wohl nicht mehr gut, denn er blickte im Dunkeln mit zusammengekniffenen Augen
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