Elantris
hatten, hatte jedoch angenommen, dass es sich einfach um einen Wächter handelte, der seine Runden machte. Stattdessen sah er einen kleinen, glatzköpfigen Arelenen in einem schlichten grauen Gewand vor sich. Omin, das Oberhaupt des korathischen Glaubens in Kae.
Omin trat auf den Mauerrand zu, blieb neben Hrathen stehen und betrachtete die Stadt. »Aber natürlich war das damals, als noch die Elantrier herrschten. Der Fall der Stadt war wahrscheinlich gut für unsere Seelen. Trotzdem kann ich nicht anders, als mir diese Zeiten voll Ehrfurcht ins Gedächtnis zu rufen. Ist Euch klar, dass niemand in ganz Arelon Hunger litt? Die Elantrier konnten aus Steinen Getreide machen und aus Dreck Bratenfleisch. Angesichts dieser Erinnerungen frage ich mich: Konnten Teufel so viel Gutes auf der Welt bewirken? Hätten sie es überhaupt gewollt?«
Hrathen erwiderte nichts. Er stand einfach nur mit verschränkten Armen gegen die Brüstung gelehnt, das Haar vom Wind zerzaust. Omin verfiel in Schweigen.
»Wie habt Ihr mich gefunden?«, wollte Hrathen schließlich wissen.
»Es ist allgemein bekannt, dass Ihr Eure Nächte hier oben verbringt«, erklärte der untersetzte Priester. Er war kaum groß genug, sich mit den Armen auf der Brüstung aufzustützen. In Hrathens Augen war Dilaf klein, aber im Vergleich zu diesem Mann wirkte der Arteth wie ein Riese. »Eure Anhänger sagen, Ihr kämt hierher und würdet Pläne schmieden, wie die schändlichen Elantrier zu besiegen seien«, fuhr Omin fort, »und Eure Gegner sagen, Ihr kämt aufgrund Eures schlechten Gewissens hierher, weil Ihr ein Volk verdammt, das bereits verflucht ist.«
Hrathen wandte sich dem kleinen Mann zu und blickte in dessen Augen hinab. »Und was sagt Ihr?«
»Ich sage nichts«, sagte Omin. »Es ist mir egal, warum Ihr diese Treppenstufen erklimmt, Hrathen. Doch ich frage mich, warum Ihr predigt, man solle die Elantrier hassen, wenn Ihr selbst bloß Mitleid für sie empfindet.«
Hrathen antwortete nicht sofort, sondern tippte mit einem panzerbehandschuhten Finger gegen die steinerne Brüstung, was jedes Mal ein metallisches Klicken verursachte. »Es ist gar nicht so schwierig, sobald man sich einmal daran gewöhnt hat«, sagte er endlich. »Ein Mann kann sich zum Hass zwingen, wenn er möchte, besonders, wenn er sich davon überzeugt, dass es zu einem höheren Zweck geschieht.«
»Man unterdrückt die Minderheit, um die Mehrheit zu erlösen?«, fragte Omin mit dem Anflug eines Lächelns, als sei die Vorstellung in seinen Augen lächerlich.
»Ihr solltet am besten nicht spotten, Arelene«, warnte Hrathen. »Euch stehen nur wenige Möglichkeiten offen, und wir beide wissen, dass die schmerzloseste darin bestünde, es mir gleichzutun.«
»Hass zu bekunden, den ich nicht empfinde? Das werde ich niemals tun, Hrathen.«
»Dann werdet Ihr belanglos werden«, sagte Hrathen einfach.
»Muss es so sein?«
»Der Shu-Korath ist fügsam und anspruchslos, Priester«, sagte Hrathen. »Der Shu-Dereth ist kraftvoll und dynamisch. Er wird Euch hinfortspülen wie eine tosende Flutwelle, die durch einen stehenden Tümpel fließt.«
Wieder lächelte Omin. »Ihr tut so, als sei die Wahrheit etwas, was sich durch Hartnäckigkeit beeinflussen ließe, Hrathen.«
»Ich rede nicht von Wahrheit oder Lüge. Ich beziehe mich lediglich auf eine physikalische Gesetzmäßigkeit. Gegen Fjorden werdet Ihr nicht bestehen können - und wo Fjorden herrscht, lehrt der Shu-Dereth.«
»Man kann die Wahrheit nicht von Taten loslösen, Hrathen.« Omin schüttelte das haarlose Haupt. »Physikalische Gesetzmäßigkeit hin oder her, die Wahrheit steht über allem. Sie ist unabhängig davon, wer über das beste Heer verfügt, wer die längsten Predigten halten kann oder gar wer die meisten Priester aufweist. Sie kann unterdrückt werden, aber sie wird immer wieder zutage treten. Die Wahrheit ist die einzige Sache auf der ganzen Welt, die sich niemals einschüchtern lässt.«
»Und wenn der Shu-Dereth die Wahrheit ist?«, wollte Hrathen wissen.
»Dann wird er die Oberhand gewinnen«, sagte Omin. »Aber ich bin nicht gekommen, um mit Euch zu streiten.«
»Ach nein?« Hrathen zog die Brauen empor.
»Nein«, meinte Omin. »Ich bin gekommen, um Euch etwas zu fragen.«
»Dann fragt, Priester, und lasst mich endlich in Ruhe.«
»Ich möchte wissen, was geschehen ist«, setzte Omin nachdenklich an. »Was ist geschehen, Hrathen? Was ist mit Eurem Glauben geschehen?«
»Mit meinem Glauben?«, fragte Hrathen bestürzt.
»Ja«,
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