Elantris
auch derjenigen Wächter, denen eine Familie gestattet war. Karata wählte eine Tür aus. Dahinter befand sich ein einzelnes Zimmer, das für die Familie eines verheirateten Wächters bestimmt war. Das Sternenlicht erhellte ein Bett an der einen Seite und eine Frisierkommode an der anderen.
Unruhig fragte Raoden sich, ob sie dies alles auf sich genommen hatten, nur damit Karata sich die Waffen eines schlafenden Wächters beschaffen konnte. Wenn ja, hatte sie den Verstand verloren. Allerdings zeugte natürlich schon der Wunsch, in den Palast eines paranoiden Königs zu schleichen, nicht unbedingt von geistiger Gesundheit.
Als Karata in das Zimmer trat, wurde Raoden klar, dass sie nicht hergekommen sein konnte, um die Ausrüstung des
Wächters zu stehlen, denn er war nicht da. Das Bett war leer, die Laken zerwühlt, als hätte jemand darin geschlafen. Karata beugte sich neben dem Bett über etwas, was Raoden auf den ersten Blick gar nicht aufgefallen war: eine Matratze auf dem Boden, auf der ein kleiner Haufen zu sehen war, bei dem es sich nur um ein schlafendes Kind handeln konnte. In der Dunkelheit konnte Raoden weder die Gesichtszüge noch das Geschlecht des Kindes erkennen. Einen Augenblick lang kniete Karata schweigend neben dem Kind.
Dann war sie fertig und scheuchte Raoden aus dem Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich. Raoden hob fragend die Augenbrauen, und Karata nickte. Sie waren bereit zum Aufbruch.
Ihre Flucht lief entgegengesetzt zu ihrem Eindringen ab. Raoden ging voran, glitt durch die immer noch offen stehenden Türen; Karata folgte und zog die Türen hinter sich zu. Alles in allem war Raoden froh, wie problemlos ihre nächtliche Unternehmung ablief - jedenfalls war er bis zu dem Zeitpunkt froh, als er durch die Tür schlüpfte, die in den letzten Korridor vor Iadons Gemach führte.
Auf der anderen Seite der Tür stand ein Mann, die Hand auf halbem Weg zum Türknauf. Er betrachtete sie mit verblüffter Miene.
Karata schob sich an Raoden vorbei. Sie schlang dem Mann den Arm um den Hals und legte ihm mit einer geschmeidigen Bewegung die Hand auf den Mund. Dann packte sie ihn am Handgelenk, als er nach dem Schwert an seiner Seite greifen wollte. Der Mann war jedoch größer und stärker als die geschwächte Elantrierin, und er machte sich aus ihrem Griff frei und stemmte sich ihr entgegen, als sie versuchte, ihm ein Bein zu stellen.
»Aufhören!«, zischte Raoden leise, eine Hand drohend erhoben.
Die Augen der beiden wanderten ärgerlich zu ihm, doch dann stellten sie das Gerangel ein, als sie sahen, was er tat.
Während Raodens Finger sich durch die Luft bewegte, erschien eine leuchtende Linie. Raoden fuhr mit dem Schreiben fort, skizzierte Bogen und Linien, bis er ein einzelnes Zeichen fertig gestellt hatte. Das Aon Sheo, Symbol für den Tod.
»Wenn Ihr Euch bewegt«, sagte Raoden leise, »sterbt Ihr.«
Der Wächter riss erschrocken die Augen auf. Das Aon leuchtete über seiner Brust, tauchte den ansonsten trüben Korridor in grelles Licht und warf Schatten an die Wände. Das Zeichen blitzte auf, wie es immer geschah, dann verschwand es wieder. Doch das Licht hatte ausgereicht, um Raodens elantrisches, mit schwarzen Flecken übersätes Gesicht zu erleuchten.
»Ihr wisst, was wir sind.«
»Gütiger Domi ...«, flüsterte der Mann.
»Das Aon wird die nächste Stunde über erhalten bleiben«, log Raoden. »Unsichtbar wird es an der Stelle schweben, an der ich es gezeichnet habe, und darauf warten, dass Ihr auch nur zittert. Wenn Ihr nicht still haltet, wird es Euch vernichten. Verstanden?«
Der Mann bewegte sich nicht. Auf seinem angstverzerrten Gesicht bildeten sich Schweißperlen.
Raoden bückte sich, öffnete den Schwertgürtel des Mannes und band sich die Waffe selbst um die Hüften.
»Kommt«, sagte er dann zu Karata.
Die Frau kauerte immer noch dort an der Wand, wo der Wächter sie hingeschubst hatte. Sie betrachtete Raoden mit einem Blick, der sich nicht deuten ließ.
»Kommt«, wiederholte Raoden mit etwas mehr Nachdruck.
Karata nickte und gewann ihre Fassung wieder. Sie zog die Tür des königlichen Schlafgemachs auf, und die beiden verschwanden auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren.
»Er hat mich nicht wiedererkannt«, sagte Karata zu sich selbst. Ihre Stimme klang gleichzeitig belustigt und kummervoll.
»Wer?«, fragte Raoden. Die beiden kauerten im Eingang eines Ladens in der Nähe der Stadtmitte von Kae und ruhten sich einen Augenblick auf ihrer Wanderung zurück nach Elantris
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