Elben Drachen Schatten
fürchten. Um ihn herum herrschte ein dauerndes Chaos aus sich ständig verändernden Farben und Formen. Nichts schien dauerhaft zu sein.
„Wo sind wir hier?“, rief Mergun.
„Wir sind in jener Welt, die ich Euch zeigen wollte“, kam Luuns Antwort.
„Welt? Das ist doch keine Welt! Das ist ein einziges Chaos!“
„Trotz der hier herrschenden Unordnung ist es eine Welt. Es gibt sogar Lebewesen, die hier ihr Dasein fristen.“
„Aber...“
Mergun fiel es schwer, Luun zu glauben.
„Hier habt Ihr nun eine Welt, die sich in ihrer Struktur wesentlich von der Eurigen unterscheidet. Es gibt hier keine festen Formen, kein oben und unten, keine Identität.“
Und Mergun fühlte, wie der Boden unter seinen Füßen verschwand. Von einem Moment zum anderen war er einfach nicht mehr vorhanden. Mergun schrie, denn er glaubte zu fallen. Aber er fiel nicht. Er schwebte.
„Es gibt in dieser Welt auch nicht so etwas wie einen Boden, guter Freund“, vernahm Mergun Luuns väterliche Stimme. „Der Boden, auf den Ihr bis eben standet, war eine von mir erschaffene Illusion, die Euch den Eintritt in diese, so völlig anders geartete Dimension erleichtern sollte.“
Mergun sah, dass Luun neben ihm schwebte und das beruhigte ihn ein wenig.
Er sagte: „Irgendwie fühle ich mich unbehaglich.“
„Unbehaglich? Ihr solltet die Freiheit genießen, die hier herrscht. Ihr seid vollkommen frei. An nichts seid Ihr gebunden, nicht einmal an die Naturgesetze, denn hier gibt es keine...“
Mergun erwiderte nichts und blickte sich um. In dieser Welt herrschte ewige Bewegung und Veränderung. Nichts behielt länger als einen Augenblick seine Form. Mergun fühlte sich schwerelos und frei. Es war ein seltsames, mitunter unheimliches Gefühl, aber nicht ohne Reiz. Einst, als er noch ein freier, ungebundener Wanderer gewesen war, hatte er ähnlich gefühlt. Aber er erinnerte sich nur noch vage daran. Es war bereits zu lange her...
Luun fragte: „Wollt Ihr, dass ich Euch mit einem Wesen dieser Welt bekannt mache?“
Mergun war äußerst neugierig.
„Ich kenne dieses Wesen seit langem. Manchmal besuche ich es.“
„Gut, macht mich mit ihm bekannt, Luun!“
„Nav!“, rief Luun da. Es schien sich um einen Namen zu handeln.
Ein sich dauernd veränderndes, rotierendes Etwas kam auf Luun und Mergun zu.
„Dies ist Nav!“, erklärte Luun und deutete auf jenes Ding , das offenbar ein Lebewesen war.
„Ich bin Mergun. Es freut mich, Euch kennen zu lernen, Nav.“
„Zurzeit heiße ich Ret“, entgegnete das Wesen.
„Was heißt: `Zurzeit heiße ich Ret`?“
„Es heißt das, was ich sagte: Zurzeit heiße ich Ret.“
„Ich dachte, Euer Name wäre Nav.“
„Früher war mein Name Nav. Jetzt bin ich Ret. Ich weiß, für die Wesen Eurer Welt ist es schwer zu verstehen. Bei uns ist es nicht üblich, einen festen Namen zu haben. Man ändert seine Identität nach Belieben - genau wie nun hier ja auch im Stande ist, seine Form nach belieben zu wechseln.“
Mergun sah jenes so unsagbar andersartige und fremde Wesen voller Erstaunen an.
„Mit Eurem Freund Luun habe ich allerdings eine Übereinkunft getroffen“, erklärte Nav, der im Augenblick Ret war, nun. „Für ihn bin ich immer Nav, auch wenn ich gerade einen anderen Namen trage.“
„Dann lasst uns eine ebensolche Übereinkunft treffen“, schlug Mergun vor.
„Gut. Wie wollt Ihr mich nennen?“
„Nav - wenn Ihr nichts dagegen habt.“
„Ich habe nichts dagegen.“
In diesem Moment empfand Mergun sogar fast so etwas wie Sympathie für dieses formlose Wesen ohne feste Identität, welches für ihn Nav war. „Soll ich Euch etwas von meiner Welt zeigen?“, fragte Nav.
„Ja, gerne. Aber wie? Ich vermag nicht, mich fortzubewegen. Ich schwebe in einer bodenlosen Leere!“, rief Mergun.
Nav gab keine Antwort.
„Nav?“, fragte Mergun, etwas unsicher geworden.
„Er versteht Eure Frage nicht, mein Freund“, erklärte Luun ruhig. „Er weiß nicht, was das Wort `schweben` bedeutet. Er weiß nicht, was Ihr sagt.“
„So ist es“, war Navs Stimme zu hören.
„Aber, wie soll ich es ihm denn erklären?“
Luun lächelte.
„Seid unbesorgt, mein Freund! In dieser Welt spielen Entfernungen nicht dieselbe Rolle wie in der Eurigen. Ihr werdet schon sehen...“
„Aber..
Doch schon im nächsten Augenblick geriet Merguns Umgebung in heftige Bewegung. Bestimmte Objekte schienen näher zu kommen, während andere sich entfernten. „Was ist los?“, rief Mergun verwundert.
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