Elben Drachen Schatten
Zeit hatte man im Königreich Elbiana drängende Entscheidungen treffen müssen, auch wenn der König nicht anwesend war. Und eine dieser Entscheidungen war gewesen, die Bitte des aratanischen Königs um ein Bündnis positiv zu bescheiden. Nur so hatte man den aufstrebenden Kaiser der Südwestlande in seine Schranken verweisen können. Inzwischen waren die Südwestlande nur noch eine Provinz von vielen des Magolasischen Reiches.
König Keandir wandte sich von seinem Mentor ab und schritt zwischen den toten Einhandschützen aus Hauptmann Rhiagons Garde dahin, die nahezu alle durch die Schreie der Riesenraben ihr Leben verloren hatten. Bei dem ein oder anderen ging er aufs Knie und drückte ihm die Augen zu – soweit die überhaupt noch vorhanden waren.
»Die Schreie haben ihren Geist zerstört, bevor ihr Körper den Tod fand«, stellte Sandrilas fest. »Die Überlieferung sagt, dass solche Elbenseelen niemals Eldrana erreichen; sie erhalten keinen Zutritt ins Reich der Jenseitigen Verklärung. Im besten Fall gehen sie ins Reichs der Verblassenden Schatten ein und werden zu Maladran.«
»Das ist grauenvoll«, murmelte Siranodir mit den zwei Schwertern.
»Ich halte es allerdings auch für möglich«, fuhr Prinz Sandrilas fort, »dass sich ihre Seelen vollkommen aufgelöst haben und nichts von ihnen geblieben ist.«
Für einen Elben war das ein entsetzlicher Gedanke.
»Es war eine sehr mächtige Magie, die mit diesem Rabenschwarm verbunden war«, stellte Keandir fest, der gerade wieder vor einer Leiche aufs Knie gesunken war; die Augen des Toten waren von den Raben ausgehackt worden, nur noch zwei blutige Höhlen waren geblieben. Keandir schaute auf und wandte Sandrilas mit einer ruckartigen Bewegung das Gesicht zu. »Ich frage mich, was er damit bezweckte.«
»Sprecht Ihr von Eurem Sohn Magolas«, fragte Sandrilas, »oder von Xaror, dem Herrn der Schatten, auf dessen sechstürmigen Tempel Lirandil während seiner Reisen stieß?«
»Das macht in diesem Fall wohl keinen Unterschied«, antwortete Keandir betrübt. Er berührte den Beutel mit den Elbensteinen, der ihm vor der Brust hing. Er hatte sich dem Axtherrscher, ein Diener Xarors und ein Gott der Trorks, im Wilderland stellen müssen, um die Steine zurückzuerobern.
»Ihr werdet auf jeden Fall auf der Hut sein müssen«, sagte Prinz Sandrilas. »Die Magie, die von den Feinden der Elbenheit angewandt wird, ist mächtig genug, um Euch überall und zu jeder Zeit erneut anzugreifen, mein König. Auch dann, wenn Ihr es am wenigsten erwartet.«
»Ja, dessen bin ich mir bewusst«, murmelte Keandir. Er ließ den Blick noch einmal über das grausige Schlachtfeld schweifen. Bei manchem der gefallenen Elbenkrieger war das Gesicht derart zerstört, dass der Tote nicht einmal mehr zu identifizieren war.
Zur selben Zeit.
An einem anderen Ort.
Magolas stöhnte laut auf, doch in diesem Moment zog sich die dunkle Hand, die aus purer Finsternis zu bestehen schien, wieder zurück. Ein dumpfer Schrei durchdrang die Hallen des sechstürmigen Tempels, der mitten in den dichten Wäldern Karanors an einem geheimen Ort lag. Ein Schrei des Zorns über eine Niederlage. So zumindest interpretierte Magolas diesen Laut.
Er stand ungefähr zehn Schritte von dem Altar entfernt, der aus einem großen Steinquader bestand und mit magischen Artefakten überhäuft war, darunter auch die beiden Zauberstäbe des Augenlosen Sehers. Auch an den steinernen Wänden waren Artefakten aller Art angebracht, und von der Decke hingen Totenschädel unterschiedlicher Form und Herkunft an fein gesponnenen, fast unsichtbaren Fäden sowie ein groteskes, grausiges Mobile aus bleichen Knochen, das sich beim kleinsten Lufthauch innerhalb der Tempelmauern bewegte und klapperte.
Auch die Elbensteine hätten in diesen Tempel gehört, wenn es nach Xaror gegangen wäre, der seit einem misslungenen magischen Experiment im Limbus gefangen war und darauf wartete, in die diesseitige Welt zurückkehren zu können. Genau dazu dienten all diese mit Zauberkraft gefüllten Gegenstände, die der Bruder des Augenlosen Sehers, dessen Dunkles Reich für ganze Zeitalter das Zwischenland beherrscht hatte, durch ihm hörige Wesen im Laufe der Zeit hatte sammeln lassen.
Der von den Trorks des Wilderlands als Gott verehrte Axtherrscher war zusammen mit seiner Horde von sechsfingrigen Gnomen Magolas’ Vorgänger gewesen, und jene Gnomen, die vor dem sechstürmigen Tempel Wache gehalten hatte, waren von Magolas' Soldaten
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