Elbenzorn
dass du mit niemandem darüber redest.«
Er drehte ihre Hand und packte sie erstaunlich fest am Handgelenk. »Mit niemandem!«, betonte er. »Auch nicht mit deinem Vater oder deinem Mann – hörst du?«
Iviidis nickte widerstrebend. Alvydas sah sie prüfend an, und das Ergebnis schien ihn ein wenig zu beruhigen. »Hör mir also zu«, sagte er. »Immer wieder gibt es Zeiten, in denen die Unzufriedenheit wächst. Ich habe es schon oft erlebt, und es erwuchs fast immer Böses daraus. Wir sind kein friedliches Volk, mein Kind. Wir waren es einst, als wir noch mit unseren Baumbrüdern lebten und die Welt um uns herum ebenso jung und unbeschrieben war wie wir. Aber das ist lange vorbei.« Seine Augen blickten durch Iviidis hindurch in die Ferne, und seine Stimme war noch leiser geworden.
»Seitdem führen wir Krieg – mit anderen Völkern und mit uns selbst. Wir haben unsere Könige und unsere Seelen verloren, und wenn wir einmal kurze Zeit, wie jetzt, in Frieden leben, sehnen sich die rastlosen und zornigen Geister unter uns so sehr nach Krieg und Kampf, dass sie alles dafür tun, den Frieden zu zerstören.«
Iviidis schauderte. »Was geht deiner Meinung nach vor sich?«, fragte sie. »Wer ist es diesmal, der den Frieden stört?«
Alvydas’ zerfurchtes Gesicht war traurig. »Ich weiß es nicht, mein Kind«, flüsterte er. »Die Ewigen mögen mir vergeben – ich weiß es nicht …« Er schlug eine Hand vor die Augen. Dann fuhr er fort zu sprechen: »Alles, was ich weiß, ist: Jemand strebt nach dem höchsten Amt. Es kann also nur einer sein, der einem der fünf Hohen Häuser entstammt.«
»Nekâr, Maskir, Rutâr, Sekrin, Lejân«, zählte Iviidis die altvertrauten Namen auf. »Rutâr scheidet aus – ich bin es nicht, und sonst ist nur noch mein Vater da und Indrekin.«
Alvydas nickte. »Aber in den anderen vier Häusern finden sich genug geeignete Kandidaten für die Schurkenrolle«, sagte er mit galligem Humor.
Iviidis dachte nach. »Nekiritan und seine Cousine«, sagte sie schließlich. »Nekiritan ist ungeheuer stolz auf sein Haus, und ich weiß, dass er vom Thron träumt. Und Nekaari würde ihm sicher nur zu gerne folgen.«
Alvydas zuckte matt mit den Schultern. »In jedem der Häuser gibt es jemanden, auf den das zutrifft«, gab er zu bedenken. »Verdächtige nicht Nekiritan, nur weil du ihm einmal nahegestanden hast.«
Iviidis senkte beschämt den Kopf. Dann sah sie ihren alten Lehrer fragend an. »Was ist mit dem Dunklen, den ich in Broneetes Erinnerung gesehen habe?«, fragte sie. »Ich habe nie an diese Kindergeschichten geglaubt, dass die Schweigsamen allesamt Dämonen sind, die Unheil, Tod und Zerstörung bringen, aber jetzt bin ich unsicher geworden. Vielleicht ist Rutaaura eine Ausnahme, weil sie bei Menschen groß geworden ist. Sie sucht nach den Dunklen, und ich fürchte nun, dass sie Dämonen finden wird.«
Alvydas stand auf und drehte ihr den Rücken zu. Er ging zu einem Regal und blieb eine Weile reglos davor stehen. Dann nahm er etwas aus dem Regal, das er behutsam vor sie auf den Tisch stellte. Es war eine kleine Figur aus dunklem und hellem Holz. Iviidis strich sacht mit dem Finger darüber. Die Oberfläche war so glatt wie Seide, und das offensichtlich uralte Holz glänzte wie mit Wachs poliert. Sie betrachtete die Figur verständnislos. Es schien die absurde Darstellung eines Elben mit zwei Köpfen und zu vielen Gliedmaßen zu sein. Hier folgte ihr Auge einem hellen Arm, dort war ein dunkles Bein neben einem hellen Fuß, hier verschränkten sich helle und dunkle Hände ineinander, dort war ein Stück von einem weißen Rücken, der sich an eine dunkle Schulter schmiegte. Dann schaltete etwas in ihrem Kopf um, und sie begriff, was sie sah. Es waren zwei Elben dargestellt, hell wie die Sonne und dunkel wie die Mitternacht, und derart ineinander verschlungen, dass es die Augen zunächst verwirrte.
Sie hob den Blick und sah Alvydas fragend an. »Das ist ein sehr altes Stück aus den Anfängen unserer Zeit«, sagte er. »Der Baumsinger, der es geschaffen hat, ist längst vergessen. Ich bewahre es, weil es schön ist, aber auch weil es eine Mahnung und eine Erinnerung ist an das, was war.«
Iviidis starrte die Figur an. »Ich sehe, was es bedeutet«, sagte sie mit flacher Stimme. »Wir waren nicht immer Feinde.«
»Nein«, bestätigte Alvydas. »Nein, das waren wir nicht. Wir waren Brüder und Schwestern, Geliebte und Freunde. Sie waren die Seele und das Herz unseres Volkes, wir der Kopf
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