Elbenzorn
und der Arm. Wir haben sie verjagt, und seitdem sind wir ohne Erinnerung und ohne Rettung.«
Er rieb sich über die Augen, und Iviidis erschrak über die Erschöpfung, die sein blasses Gesicht zeichnete.
»Ich habe dich überanstrengt«, sagte sie. »Verzeih mir, Alvydas.«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist gut. Es gibt so vieles, was ich dir noch sagen muss, aber für heute soll es reichen. Du kommst morgen zu mir, und wir werden weiter an der Aufzeichnung arbeiten. Wenn ich dann noch Kraft habe, können wir reden.« Er stemmte sich hoch und stellte die Figur zurück in die Nische.
Iviidis schlief nicht in dieser Nacht, denn die Erzählung des alten Elben hatte sie zu sehr aufgewühlt. Immer wenn sie die Augen schloss und in die sanften Arme des Schlafes glitt, tauchten Bilder vor ihr auf: Dunkle Elben, die von ihren hellen Geschwistern aus ihren Häusern vertrieben und wie Tiere gehetzt wurden. Der verwaiste Elbenthron, der wie eine stumme Anklage in der Hohen Halle brütete. Dunkle Dämonen, die sich auf arglose Elben stürzten und sie zerfleischten. Die stille Trauer ihrer Mutter und die Bitterkeit im Gesicht ihrer eigenen Schwester. Bilder über Bilder wirbelten unaufhörlich durch ihren Geist, und keins von ihnen war angenehm.
Iviidis wälzte sich von einer Seite auf die andere, schreckte immer wieder aus einem oberflächlichen Halbschlaf auf und erhob sich schließlich, an Körper und Seele zerschlagen, von ihrem Lager, weil ihr in dieser Nacht offensichtlich kein erholsamer und ruhiger Schlaf mehr vergönnt war.
Sie zog ihr liebstes Morgenkleid über, das mit den langen Doppelärmeln, in denen sich so viel verstauen ließ, und sah kurz nach ihrem Sohn, der friedlich und fest in seinem Bettchen schlummerte. Indrekin hatte sich wie immer freigestrampelt, und Iviidis deckte ihn wieder zu. Eine Weile stand sie da und sah auf seinen Kopf mit dem verwuschelten Haar hinunter.
Dann zog sie die Vorhänge um sein Bett wieder zu und ging hinaus in einen der vielen Innenhöfe. Die Nacht war samtig und still. Iviidis setzte sich auf eine weich gepolsterte geflochtene Bank, zog die bloßen Füße hoch, wickelte sie gut in ihr Morgenkleid und kramte dann Lootanas Aufzeichnungen und einen Apfel aus ihrem Ärmel. Sie biss in den Apfel und ließ ihre überreizten Sinne in die kühle Tiefe des Kristalles sinken. Die Sonne ging gerade auf, als sie wieder daraus auftauchte. Die Vögel begrüßten den neuen Tag, die Luft war feucht und kühl und roch nach frischem Gras, und der angebissene Apfel lag vergessen neben ihrer Hand, mit feinen Tauperlen überzogen.
Iviidis streckte sich, aß den Apfel auf und schob den Kristall wieder in ihren Ärmel. Lootana hatte ihr noch zusätzlich einiges Material zum Nachdenken gegeben, und sie brannte darauf, sich mit Alvydas auch darüber zu unterhalten.
Schritte flüsterten über das Gras, und Stoff raschelte. Sie blickte auf und sah ihren Vater auf sich zukommen. Er hielt zwei Becher in den Händen, aus denen es verlockend dampfte.
»Ich sah dich, als ich aufstand, aber ich wollte dich nicht stören«, sagte er. »Du warst so vertieft.« Er setzte sich neben sie.
Iviidis nahm den Becher aus seiner Hand entgegen und dankte ihm. Sie hatte vergessen, dass Glautas nur wenige Stunden in der Nacht schlief und gewöhnlich schon bei Tagesanbruch wieder an die Arbeit ging. Die Köchin hielt schon immer eine Kanne mit Tee für ihn bereit, wenn er in aller Frühe in der Küche auftauchte.
Sie saßen eine ganze Weile schweigend und friedlich nebeneinander. Iviidis wärmte ihre Hände an dem dampfenden Becher und ließ ihre Gedanken schweifen. Die Annahme, dass die Gefährtin ihres Vaters auf irgendeine Weise in die Ermordung Horakins verwickelt sein könnte, erschien ihr im Morgenlicht absurd. Wahrscheinlich war das Ganze ein Irrtum und im Handumdrehen aufzuklären.
»Gibt es eigentlich neue Erkenntnisse zur Ermordung Horakins?«, fragte sie.
Glautas runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, warum dich das interessiert«, sagte er leise tadelnd. »Aber gut, es ist eben ein sensationelles Thema, und junge Elben lieben so etwas. Ich hätte dir allerdings ein wenig mehr Reife und Gelassenheit zugetraut.«
Iviidis nahm den Rüffel stumm hin. Sie war immer wieder überrascht, wie empfindlich ihr Vater sich bei diesem Thema zeigte – aber das lag wahrscheinlich daran, dass er immer noch keine Ahnung hatte, wer hinter dem Anschlag steckte. Sie fröstelte. Sie hätte zu gerne mit ihrem Vater über
Weitere Kostenlose Bücher