Elbenzorn
berührte, war fest, kühl und von lebendem Fleisch und Blut.
Iviidis wartete. Hinter ihr öffnete sich eine Tür und schloss sich wieder. Es blieb ruhig, dann hörte sie, wie etwas mit metallischem Klirren zu Boden fiel, und kurz darauf den schwereren, dumpferen Fall eines Körpers.
Wenige Atemzüge später öffnete sich erneut die Tür. Der Mörder Horakins trat aus dem Gemach, und Iviidis erwartete, dass er vorübergehen würde. Doch zu ihrem grenzenlosen Erstaunen blieb er erneut neben ihr stehen und berührte ihr Gesicht, und Broneete öffnete die Augen und sah ihn an.
Iviidis hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Sie durfte sich jetzt nicht bemerkbar machen, um Broneete nicht vorzeitig aus ihrer Trance zu reißen.
Helle, farblose Augen blickten sie an. Einen verwirrten Moment lang schienen sie körperlos in der Luft zu schweben, dann schälten sich Umrisse aus der Dunkelheit. Das Gesicht, zu dem die Augen gehörten, war schwarz wie die Nacht. Iviidis fühlte die knochentiefe Angst, die die Gardistin packte und schüttelte und wie ein riesiger Hund zwischen ihren Kiefern zu zermalmen drohte.
Der Dunkle hob erneut die Hand und strich über Broneetes Stirn, berührte ihre Nasenwurzel. Sie wusste mit erschreckender Deutlichkeit, dass ihr Leben hier und jetzt mit dieser Berührung hätte enden können. Aber der Dunkle verharrte nur einige Atemzüge, starrte sie an, dann blies er auf ihre Augenlider, die sich zitternd und widerstrebend senkten. Der Druck der kühlen Finger lastete noch auf ihrer Stirn, dann war er plötzlich verschwunden. »Sag ihm, dass wir unseren Auftrag erfüllt haben«, flüsterte eine Stimme.
Erdschwere Betäubung senkte sich auf Broneetes Bewusstsein. Iviidis wehrte sich gegen den dunklen Sog, aber er zog sie mit sich ins Nichts, sosehr sie sich auch sträubte.
Sie riss sich von Broneetes Erinnerung los und tauchte, nach Luft schnappend wie eine Ertrinkende, empor ins Licht.
Die Gardistin war gegen sie gesunken und lehnte schlaff an ihrer Schulter. Iviidis löste die Verbindung und blieb eine Weile an Broneetes Schultern geklammert sitzen, bis ihr Atem sich beruhigt hatte.
Dann ließ sie Broneete behutsam auf den Diwan sinken und zog eine seidene Decke über sie. Ein paar Minuten Ruhe würden Broneete guttun, und das gab ihr selbst die Gelegenheit zu sortieren, was sie gesehen hatte.
Was Broneete gesehen hatte … Der Dunkle hatte sie für seine Botschaft geweckt und sie sie dann sofort wieder vergessen lassen. Das warf zwei Fragen auf: Für wen war die Botschaft gedacht gewesen – und wie sollte derjenige in ihren Besitz gelangen? Und die dritte Frage, die sich stellte: Jemand hatte einen der Schweigsamen dazu angestiftet, den Kommandeur der Wache zu töten, und dieser Auftraggeber war hier, im Wandernden Hain. Das war wahrhaftig unvorstellbar. Und was noch unvorstellbarer war …
Iviidis tauchte aus ihren Gedanken auf und sah, dass Broneete sie anblickte. Die Augen der Gardistin waren verschattet, und Iviidis wusste, dass sie sich dieses Mal an alles erinnern konnte.
»Sie hat gelogen«, sagte Broneete mit schwerer Zunge. Iviidis erkannte überrascht, dass die Gardistin sich nicht damit aufhielt, über die Geschehnisse während ihrer Wache nachzudenken, sondern gleich auf den Punkt kam, der auch ihr das größte Rätsel aufgab. Broneete richtete sich auf und griff nach dem Glas mit Erdbeerwein, um ihre Lippen zu befeuchten. »Ist es möglich, dass sie nicht gesehen hat, was du gesehen hast?«, fragte sie.
Iviidis schüttelte den Kopf. »Es war nicht versteckt, ganz im Gegenteil«, sagte sie. »Es sollte ja gefunden werden, wenn auch nicht von mir …« Sie legte die Hand vor den Mund. »Es sollte gefunden werden«, flüsterte sie. »Von der Sondiererin, die dich nach dem Mord befragt hat.«
Sie sahen sich an.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Broneete nach einer Weile. »Kannst du es dir erklären?«
Iviidis schüttelte stumm den Kopf. »Ich werde sie fragen«, sagte sie schließlich.
Broneete griff nach ihrem Arm. »Nein«, sagte sie energisch. »Nein, das solltest du nicht tun!«
Iviidis sah sie verblüfft an. Die junge Gardistin hatte sich aufgerichtet, ihr Gesicht war hart und konzentriert. »Verstehst du nicht?«, sagte sie. »Wenn Zinaavija mit dem Mord zu tun hat, wäre es unklug, es ihr auf den Kopf zuzusagen, ehe wir nicht mehr wissen. Was steckt dahinter, wer steckt noch dahinter – du weißt schon. Wir sollten es herausfinden und sie nicht vorher
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