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Elbenzorn

Elbenzorn

Titel: Elbenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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jetzt in der Hand.« Sie lächelte schwach.
    Broneete verzog den Mund. »Ich denke, es ist umgekehrt«, sagte sie nüchtern. »Du hast mich verpflichtet, und jetzt bin ich dir etwas schuldig.«
    Iviidis hob anmutig die Schultern. »Du hast die höfischen Regeln schnell gelernt«, gab sie zu. »Ich möchte wissen, was in jener Nacht geschehen ist.«
    Broneete nickte ergeben. »Ich hätte es dir auch so gestattet. Meine Angst ist einer Soldatin nicht würdig. Und du hast mir nie Grund gegeben, dir zu misstrauen. Die meisten im Sommerpalast spielen doppeltes und dreifaches Spiel, das habe ich schon bemerkt. Du und Glautas – ihr seid die Einzigen, die immer sagen, was sie denken.«
    Iviidis schluckte kurz. Das stimmte nicht – weder für sie noch für ihren Vater. Aber es wäre in diesem Moment sicherlich nicht ratsam, Broneete auf ihren Irrtum hinzuweisen.
    »Was muss ich tun?«, fragte Broneete, und das Unbehagen stand ihr trotzdem ins Gesicht geschrieben.
    Iviidis schüttelte den Kopf. »Gar nichts«, sagte sie. »Lehn dich ein wenig zurück, dass du bequem sitzt. Ich komme neben dich. Keine Sorge, es wird weder unangenehm noch schmerzhaft. Und ich verspreche dir, ich berühre nichts, was nicht diesen Vorfall betrifft. Deine innersten Gedanken sind vor mir sicher.«
    Broneete seufzte ergeben und lehnte sich gegen das Polster, und Iviidis nahm neben ihr Platz. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich von der langen und anstrengenden Sitzung mit Alvydas zu erholen, und das war ungünstig. Selbst eine leichte Sondierung, mit einer Partnerin, die daran gewöhnt war, wäre ihr unter diesen Umständen schwergefallen. Es wäre besser gewesen, die Sondierung für einen späteren Zeitpunkt anzusetzen – aber sie befürchtete, dass sie kein zweites Mal so leicht Broneetes Einwilligung bekäme. Sie musste es probieren.
    »Ich werde dich jetzt berühren«, sagte Iviidis mit leiser, beruhigender Stimme. »Ich sage das nur, damit du dich nicht erschreckst.«
    Broneete nickte mit zusammengepressten Lippen, blass unter ihrer sonnenbraunen Haut.
    Iviidis legte tastend ihre Hände an die Schläfen der jungen Elbin. Sie schloss den Daumenkontakt über der Nasenwurzel und glich ihren Atem dem schnelleren der Gardistin an. Dann begann sie bewusst langsamer und tiefer zu atmen. Nach einer Weile folgte Broneete ihr in den langsameren Rhythmus. Ihre verkrampften Schultern entspannten sich, und der Kopf sank nach vorne, schwer in Iviidis’ Griff hinein.
    »Gut«, flüsterte Iviidis aufmunternd. »Du machst das sehr gut.« Sie schloss die Augen und streckte ihre Geistfinger aus. Der erwartete Widerstand blieb aus. Erstaunlich mühelos tauchte sie unter die aufgewühlte Oberfläche von Broneetes wirbelnden Alltagsgedanken. Sie orientierte sich in dem vertrauten Zwielicht, das stets auf dieser Stufe eines fremden Geistes herrschte. Das war der schwierigste Moment des gezielten Sondierens. In welcher Richtung lag die Erinnerung, die sie suchte, wo fand sie den Tag, das Ereignis …
    Iviidis sammelte ihre Kräfte für die große Anstrengung, die es bedeutete, ihren sondierenden Sinn so weit und offen auszustrecken, dass er diese ganze Ebene durchmessen und umfassen konnte. Sie stützte sich auf ihren Atem und dehnte sich mit ihm aus. Am Rande ihres Bewusstseins fühlte sie den Widerstand, den Broneete ihr unbewusst entgegensetzte – schwach wie die ziellos in die Luft greifenden Händchen eines neugeborenen Kindes. Sie schob den Widerstand sanft und ohne Anstrengung beiseite und wusste, dass Broneete dieses Mal keinerlei Angst verspüren würde. Warum fiel ihr diese Sondierung so merkwürdig leicht, obwohl sie doch geglaubt hatte, alle ihre Reserven dafür mobilisieren zu müssen?
    Jetzt nicht, später würde sie die Ruhe haben, sich damit zu beschäftigen. Jetzt musste sie erst einmal finden, was sie suchte – und zwar dort.
    Ein kurzer Ruck, sie zog ihre Geistfinger ein bis auf den einen, der die Erinnerung berührt hatte, die sie suchte. Eine zweiter, kürzerer Ruck wie ein Fingerschnippen, dann war sie am Ort. Sie fiel, ein kurzer, scharfer Riss, dann schlug sie die Augen auf und sah und hörte, was Broneete gesehen, gehört, gespürt – und wieder vergessen hatte.
    Das leise Singen, das Broneete eingeschläfert hatte, verklang. Iviidis strengte all ihre Sinne an. Schritte näherten sich – lautlos, und doch vernehmbar. Das war kein körperloser Geist, der da auf sie zukam und vor ihr Halt machte. Und die Hand, die jetzt ihre Augen

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