Electrica Lord des Lichts
Jahren so gegangen sein. Er wird sie doch nicht geschlagen haben? Natürlich hatte er sie misshandelt und sie hatte es erduldet. Plötzlich erinnerte sich Sue an die vielen Male, bei denen ihre Tante unterdrückt gestöhnt hatte, wenn sie sich bückte oder einfach dastand und Essen zubereitete. Wenn sie sich unbeobachtet gefühlt hatte, hielt sie sich oft die Seite, als wollte sie damit den Schmerz dämmen. Sues Fragen tat sie mit einem belanglosen Winken ab, redete von verdorbenem Magen oder Monatsfluss. Nachdem Sue mit eigenen Augen gesehen hatte, wozu der Schulmeister fähig war, wurde ihr einiges klar. Weitere Tränen schossen ihr in die Augen. Ein erneuter Schluchzer brannte in ihrer Kehle, drohte, sie zu sprengen. Mit Mühe versuchte sie, ihre Fassung wiederzuerlangen. Ihr Blick fuhr zum Gehstock, den er fest umklammert hielt. Eine unterschwellige Bedrohung ging von ihm aus.
Sie musste hier weg, wenn sie nicht in Gefahr laufen wollte, niedergeschlagen zu werden. Die Hintertür. Sie befand sich direkt hinter dem Schulmeister. Der Kloß in ihrem Hals verhärtete sich bei der Vorstellung, den leblosen Körperihrer Tante zurückzulassen. Es zerriss ihr das Herz, doch ihre eigene Sicherheit war in Gefahr. Es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Mit einem Satz war sie auf den Füßen, schubste Mr. Ethan mit aller Kraft zur Seite und stürzte an ihm vorbei. Panisch zerrte Sue an den Scharnieren der schweren Tür. Schleifende Schritte näherten sich unaufhörlich. Der Schulmeister musste seinen Gehstock verloren haben und zog nun sein lahmes Bein hinterher. Ein Nerven zerrendes Geräusch, nur unterbrochen von ihren geräuschvoll ausgestoßenen Atemzügen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, ihre Kopfhaut kribbelte in der Erwartung, jeden Moment Mr. Ethans knorrige Hand auf der Schulter zu spüren.
Nach mehreren Versuchen gelang es endlich, die Tür zu öffnen. Mit einem Satz sprang sie die drei Stufen hinab, als säße ihr der Teufel im Nacken. Und eigentlich war es auch niemand anders, wie sich ein hastiger Blick über die Schulter zeigte. Die verzerrte Miene des Schulmeisters konnte nicht weit davon entfernt sein, dem Antlitz des Unterweltfürsten zu ähneln. Blindlings stürzte Sue in die Dunkelheit. Vor ihr lag nichts als eine dichte Nebelwand, hinter der die Heide mit ihrem dichten Gestrüpp nur zu vermuten war.
„Bleib sofort stehen, Sue Beaton!“
Ethans Stimme schnitt rasiermesserscharf in die Dunkelheit. Er schien sich auf den herrschenden Tonfall seiner Stimme zu verlassen. Jeden anderen hätte dieser Unheil verkündende Befehl auf der Stelle zum Stillstand gebracht und bewogen, sich seinem Schicksal zu ergeben. In der Erwartung einer Prügelstrafe oder, was sie betraf, etwas weitaus Schlimmerem. Doch Sue war nie seine Schülerin gewesen. Sie war nicht einmal hier aufgewachsen und Mädchen wurden ohnehin nicht unterrichtet. Ihr Instinkt riet ihr nicht zur demutsvollen Opferbereitschaft, sondern zu dem Einzigen, das ihr richtig erschien. Laufen. So schnell und so lange sie konnte. Weit weg von der unmittelbaren Gefahr.
Mit den Händen schlug sie die dichter werdenden Gebüsche zur Seite. Dennoch peitschten widerspenstige Zweige in ihr Gesicht, als wucherten sie hier eigens, um Eindringlinge fernzuhalten. Schweiß lief ihr in die Augen, brannte in den feinen Schnittwunden auf ihren Wangen. Ihre Schritte schmatzten auf dem nachgiebiger werdenden Torfmoos. Schlammiges Wasser sog sich in ihre Rocksäume, die bald schwer um ihre Fesseln schlugen. Das Moor. Sie wusste nicht, wo es begann. Außer den erfahrenen Jägern wagte sich niemand so weit hinaus in das wilde Gelände des Niedermoors. Schon gar nicht bei Nacht. Sogar die Torfstecher hielten sich in Ufernähe. Ein falscher Schritt könnte sie in Gefahr bringen, in eines dieser tückischen Wasserlöcher zu fallen, aus denen es kein Entrinnen gab.
Schwer atmend blieb Sue stehen, stützte sich an den knorrigen Stamm einer einsamen Schwarzerle. Die unheimliche Stille des Moors wurde jäh unterbrochen, als neben ihr ein paar Birkhühner aufstoben und sich laut schnatternd davonmachten. In der Ferne erscholl der Ruf einer Sumpfohreule, mischte sich unter ihr erschrecktes Keuchen. Fremde nächtliche Geräusche schürten ihre Angst um ein Vielfaches. Zitternd lehnte sie sich gegen den Baum, dessen karge Äste sich in den düsteren Nachthimmel reckten. Am liebsten hätte sie sich einfach hinabgleiten lassen, sich gesetzt, um zu warten. Doch worauf? Hier gab es
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