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Electrica Lord des Lichts

Electrica Lord des Lichts

Titel: Electrica Lord des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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sie es kaum spürte. Auf dem Weg zur Tür verschnürte sie die beiden losen Seidenbänder vor dem Bauch. Sie musste versuchen, den Lord dazu zu bewegen, seiner Pflicht nachzukommen. Zumindest wollte sie herausfinden, welche Tageszeit war.
    Sie trat hinaus. Vor ihr erstreckte sich zu beiden Seiten ein langer Flur, der ins Endlose zu laufen schien, obwohl zahlreiche Lampen leuchteten. Nicht so strahlend wie in dem Raum, den sie zuletzt gesehen hatte, aber dennoch beeindruckend.Die spärlicher eingesetzten Leuchten warfen runde Lichtkegel in die Dunkelheit. Die fast körperlich zu spürende Stille tauchte den Gang in eine geheimnisvolle Atmosphäre. Sue warf einen kurzen Blick zurück in das Zimmer. Es wäre sinnlos, dort auszuharren, bis irgendjemand kam. Sie wählte eine Richtung und ging langsam den Flur entlang. Der Volant ihres Nachthemdes kitzelte ihre Fußrücken.
    Nirgendwo entdeckte sie ein Fenster, dafür säumten unzählige Porträts die Wände. Über jedem hingen kleine Lampen in Wandhalterungen, sodass ein Lichtermeer aus erlesener Schönheit entstand. Es gab keine andere Beschreibung für diesen Anblick. Alle abgebildeten Personen befanden sich in der Blüte ihres Lebens, trugen erlesene Kleidung und schienen um die Aufmerksamkeit des Betrachters zu buhlen. Dabei war das nicht nötig, schließlich hatten sie bereits alle eine eigene Sonne für sich gepachtet. Sue kam aus dem Staunen nicht heraus, während sie langsam den Gang entlangschritt. Immer wieder streckte sie die Hand aus, wollte die unebene Fläche der Leinwände berühren, als könnte sie die Farben anfassen. Doch sie wagte es nicht, zog schnell die Hand zurück. Nie zuvor hatte sie so viel Glanz gesehen. Es übertraf ihre Vorstellungen, ließ gleichzeitig ein Frösteln über ihren Rücken laufen, obwohl es nicht einmal kalt war. Sie musste träumen.
    Irgendwann erreichte sie am Ende des Ganges eine Tür, über deren Rahmen in goldenen Lettern ein Spruch geschrieben stand.
    „Sic transit gloria mundi.“
    „So vergeht der Ruhm der Welt“, übersetzte eine tiefe Stimme hinter ihr.
    Erschrocken fuhr Sue herum und blickte in das ebenmäßige Gesicht von Cayden Maclean. Er stand lächelnd da, als sei er soeben aus einem der Porträts gestiegen. Sue schlang die Arme um ihren Leib, weil sie das Gefühl hatte, bei etwas Ungehörigem ertappt worden zu sein. Abgesehen davon trug sie nichts weiter als ein Nachtgewand über ihrem Leibchen. Plötzlich schien sich der Stoff gegen ihre Brüste zu pressen. Herrje, das war ja beinahe, als stünde sie nackt vor dem Lord. Sie senkte die Hände und spürte Röte in ihren Wangen aufsteigen. Lord Maclean schien nichts von ihrer Verlegenheit zu bemerken, sondern blickte lächelnd zu den goldenen Lettern hinauf.
    „Vanitas. Eitelkeit war stets ein Leitmotiv der Macleans.“
    Sue bemerkte eine gewisse Ehrerbietung in seiner Stimme. Sie fand nichts Lobenswertes an Eitelkeit, war sie doch Gottes Mahnung an die Menschen, sich ihrer eigenen Vergänglichkeit, ihrer Nichtigkeit bewusst zu sein.
    „Es ist alles eitel, heißt es im Buch Kohelet, was im ursprünglichen Sinne gleichbedeutend mit nichtig ist“, sagte sie und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
    Verdammt. Dass sie auch nie ihren Mund halten konnte. Mit unhöflichen Bemerkungen würde es ihr nicht gelingen, sich beim Lord Gehör zu verschaffen.
    „Die Bibel gehört nicht zu meiner bevorzugten Lektüre“, erwiderte er mit ruhiger Stimme.
    Sie sah moosgrüne Augen. Etwas Vertrautes lag in dem irisierenden Glanz, trieb einen sanften Schauder über ihre Arme. Plötzlich fühlte sie sich schutzbedürftig. In einem Anflug von Ehrfurcht überkam sie das Gefühl, dass dieser Mann allen Grund hatte, das Beste von sich selbst zu denken. Seltsamerweise fand sie diese Eigenschaft nicht verwerflich, denn augenscheinlich gab es nicht das Geringste an seiner Erscheinung auszusetzen. Im Gegenteil. Sie könnte ewig dastehen und ihn anstarren. Da lag etwas in seinen Augen, dass sie schwindelig werden ließ. Seine Nase war so gerade, als hätte Gott bei der Erschaffung ein Lineal angesetzt. Rostbraune Bartstoppeln überzogen seine angespannten Wangen und verdunkelten sich in den ordentlich gestutzten Koteletten.
    Meine Güte. Es gehörte sich nicht, jemanden anzustarren. Was war nur los mit ihr? Sue wandte den Blick ab und kniff kurz die Augen zu, um ihre Gedanken zu sortieren. „Entschuldigung“, sagte sie. „Ich sollte in mein Zimmer zurückkehren und mich

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