Elegie - Herr der Dunkelheit
vergeben.«
Bruder Louvel war ein guter Geschichtenerzähler; er hatte eine melodische Stimme und wusste an den richtigen Stellen Pausen zu setzen, so dass seine Zuhörer an seinen Lippen hingen und auf den nächsten Atemzug gespannt waren. Was würde Elua antworten? Wir konnten kaum erwarten, es zu erfahren.
Er offenbarte uns Folgendes: Der Heilige Elua lächelte den obersten Herold an, wandte sich zu seinem Gefährten Cassiel und streckte die Hand nach dessen Messer aus. Nachdem er es genommen hatte, zog er die Spitze über seine Handfläche und schlitzte sie auf. Leuchtend rotes Blut quoll hervor und fiel in dicken Tropfen zur Erde, aus denen Anemonen erblühten. »Meines Großvaters Himmelsreich ist blutleer«, sagte Elua dem Boten, »ich bin es aber nicht. Möge er mir einen besseren Ort anbieten, an dem wir lieben und singen und wachsen können, wie es unser Brauch ist, einen Ort, an dem unsere Kinder und unsere Kindeskinder mit uns zusammenkommen können, und ich werde gehen.«
Der Herold hielt inne und wartete auf die Antwort des Einen Gottes. »Solch einen Ort gibt es nicht«, antwortete dieser.
Daraufhin, so erzählte uns Bruder Louvel, geschah etwas, das seit vielen Jahren nicht mehr und seitdem nie wieder geschehen war: Unsere Mutter Erde sprach zu ihrem einstigen Gemahl, dem Einen Gott, und sagte: »Wir könnten ihn erschaffen, du und ich.«
So wurde das wahre Terre d’Ange erschaffen, dasjenige, welches jenseits irdischer Wahrnehmung liegt und dessen Pforte wir erst betreten dürfen, nachdem wir durch das dunkle Tor geschritten sind, das aus dieser Welt herausführt. Und so verließen Elua und seine Anhänger diese Ebene und gingen nicht durch das dunkle, sondern geradewegs durch das strahlende Tor in das jenseits gelegene großartigere Land. Aber er war der Erste, der dieses Land geliebt hat, und so nennen wir es nach ihm und ehren Elua und sein Andenken in Stolz und Liebe.
Am Tag, als er mit der Erzählung des Eluine-Zyklus’ fertig war, brachte uns Bruder Louvel ein Geschenk mit; für jeden einzelnen einen Strauß Anemonen, den wir mit einer langen Nadel an unseren Kitteln befestigten. Die Blumen waren von dem tiefen, kräftigen Rot, von dem ich glaubte, es deute auf wahre Liebe hin, doch er erklärte uns, dass die Anemonen ein Zeichen des Verständnisses für das irdische Blut Eluas seien, das er für seine Liebe zur Erde und zum Volke der D’Angelines vergoss.
Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, auf dem Anwesen des
Cereus-Hauses umherzustreifen und den Unterricht des Tages auf mich einwirken zu lassen. An jenem Tag, erinnere ich mich, war ich in meinem siebten Lebensjahr und wie jeder andere Adept stolz auf die Anemonen, die vorne an meinem Kleid steckten.
Im Vorraum des Empfangszimmers versammelten sich wie immer all jene Adepten, nach denen man geschickt hatte, um sich für die Begutachtung und Auswahl durch die Freiersleute bereitzuhalten. Ich ging gerne dorthin, weil mir die kultivierte Atmosphäre der Dringlichkeit, die leichte Spannung gefiel, die den Wartenden anzusehen war, während sie sich darauf vorbereiteten, um die Gunst der Freiersleute zu wetteifern. Nicht dass offener Wettbewerb gestattet gewesen wäre; solch eine Zurschaustellung ungehöriger Gefühle hätte man als unschicklich empfunden. Aber es war dennoch zu spüren, und man hörte immer wieder Geschichten – eine Flasche Duftwasser, die gegen Katzenurin ausgetauscht worden war, zerfetzte Haarbänder, zerschnittene Träger, der schräg abgeschnittene Absatz eines Schuhs. Ich habe solche Dinge nie beobachtet, aber die Möglichkeit lag immer in der Luft.
An diesem Tag war alles still, und nur zwei Adepten warteten ruhig, da man schon im Vorhinein nach ihnen persönlich verlangt hatte. Ich setzte mich lautlos und ohne ein Wort zu sagen an den kleinen Brunnen in der Ecke und versuchte mir vorzustellen, ich wäre einer dieser Adepten und wartete gelassen darauf, mich mit einem Freiersmann niederzulegen. Doch bei dem Gedanken, mich einem Fremden hinzugeben, überkam mich stattdessen eine erschreckende Erregung. Nach dem, was uns Bruder Louvel erzählt hatte, wurde Naamah von einer mystischen Reinheit erfüllt, als sie zum König von Persis ging und sich auf dem Marktplatz mit Fremden niederlegte.
Aber das erzählen sie im Gentiana-Haus und nicht in Alyssum, wo es heißt, sie habe sich davor gefürchtet, ihre Sittsamkeit abzulegen, und auch nicht im Melissa-Haus, wo man sagt, sie sei aus Mitgefühl zu ihm
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