Elementarteilchen
ein beträchtliches Einkommen sicherten. Nachdem sie sich mit Marc in einer Villa in Sainte -Maxime niedergelassen hatte, änderte er nichts an seiner ungeselligen Lebensart. Sie drängte ihn, sich um seine Karriere als Filmemacher zu kümmern; er stimmte zu, unternahm aber nichts, und begnügte sich damit, auf das nächste Reportagethema zu warten. Wenn sie abends ein großes Essen gab, aß er meistens vorher allein in der Küche; anschließend verließ er das Haus und ging am Ufer spazieren. Kurz bevor sich die Gäste verabschiedeten, kehrte er zurück und entschuldigte sich damit, er habe noch den Schnitt eines Films beenden müssen. Die Geburt seines Sohns im Juni 1958 l öste bei ihm eine offensichtliche Störung aus. Minutenlang starrte er das Kind an, das eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihm besaß: das gleiche scharf geschnittene Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen; die gleichen großen grünen Augen. Kurz danach begann Janine, ihn zu betrügen. Er litt vermutlich darunter, aber das ist schwer zu sagen, denn er sprach tatsächlich immer seltener. Er errichtete kleine Altäre aus Kieselsteinen, Zweigen und Krebspanzern; dann fotografierte er sie in flach einfallendem Licht.
Seine Reportage über Saint-Tropez hatte großen Erfolg in der Branche, aber er weigerte sich, den Cahiers du cinéma ein Interview zu geben. Sein Ansehen stieg noch, nachdem ein kurzer, äußerst bissiger Dokumentarfilm im Fernsehen gezeigt wurde, den er im Frühjahr 1959 über die Jugendzeitschrift Salut les co pains und die Popmusikfans gedreht hatte. Der Spielfilm interessierte ihn überhaupt nicht, und zweimal lehnte er es ab, mit Godard zu arbeiten. Etwa zur gleichen Zeit begann Janine, mit Amerikanern zu verkehren, die die Côte d'Azur besuchten. In den USA, in Kalifornien, war etwas grundlegend Neues im Entstehen begriffen. In Esalen, in der Nähe von Big Sur, wurden Kommunen gegründet, auf der Grundlage von sexueller Freiheit und dem Gebrauch psychedelischer Drogen, denen eine bewußtseinserweiternde Wirkung zugeschrieben wurde. Janine wurde die Geliebte von Francesco di Meola, einem Amerikaner italienischer Abstammung, der Ginsburg und Aldous Huxley kennengelernt hatte und zu den Gründern einer der Esalener Kommunen gehörte.
Im Januar 1960 fuhr Marc nach China, um eine Reportage über die kommunistische Gesellschaft neuer Prägung zu machen, die in der Volksrepublik im Aufbau begriffen war. Am Nachmittag des 23. Juni kehrte er nach Sainte-Maxime zurück. Es schien niemand im Haus zu sein. Doch ein splitternacktes, etwa fünfzehnjähriges Mädchen saß im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerteppich . »Gone to the beach ...«, erwiderte sie auf seine Fragen, ehe sie wieder in Lethargie verfiel. In Janines Schlafzimmer lag ein großer, offensichtlich betrunkener bärtiger Mann quer auf dem Bett und schnarchte. Marc spitzte die Ohren; er vernahm jammernde oder röchelnde Laute.
Im Schlafzimmer im ersten Stock herrschte ein entsetzlicher Gestank; die Sonne, die durch die Fenster hereindrang, warf ein grelles Licht auf die schwarzweißen Fliesen. Sein Sohn kroch unbeholfen über die Steinplatten, rutschte ab und zu in einer Pfütze aus Urin oder Exkrementen aus. Er kniff die Augen zusammen und jammerte unablässig. Als er die menschliche Gegenwart spürte, versuchte er, die Flucht zu ergreifen. Marc nahm ihn in die Arme, völlig verängstigt zitterte das kleine Wesen in seinen Händen.
Marc ging wieder nach draußen; in einem Geschäft in der Nähe kaufte er einen Kindersitz. Er hinterließ Janine eine kurze Nachricht, stieg in den Wagen, schnallte das Kind auf dem Sitz fest und fuhr in Richtung Norden. Auf der H öhe von Valence bog er ins Zentralmassiv ab. Es wurde dunkel. Ab und zu warf er zwischen zwei Kurven einen Blick auf seinen Sohn, der auf der Rückbank döste; er spürte eine seltsame Rührung in sich.
Von diesem Tag an wurde Michel von seiner Großmutter aufgezogen, die, seit sie im Ruhestand war, wieder in ihre Heimat, ins Departement Yonne zurückgekehrt war. Kurz darauf ging seine Mutter nach Kalifornien, um in di Meolas Kommune zu leben. Michel sollte sie nicht vor seinem fünfzehnten Lebensjahr wiedersehen. Er sollte übrigens auch seinen Vater nicht mehr oft wiedersehen. 1964 fuhr dieser nach Tibet, das zu jener Zeit unter chinesischer Besatzung stand, um dort eine Reportage zu machen. In einem Brief an seine Mutter versicherte er, es gehe ihm gut, und berichtete
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