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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Bohrmechanismus. Zwei Paar Gliedmaßen (oder Klammerhaken) sind mit langen Klauen versehen. Das ausgewachsene Tier ist weiß, lanzettförmig und etwa 18 bis 85 Millimeter lang. Sein Körper ist flach, geringelt, durchsichtig und mit Chitinnadeln besetzt.

    Im Dezember 1968 zog seine Großmutter ins Departement Seine-et-Marne, um in der Nähe ihrer Töchter zu sein. Michels Leben änderte sich dadurch anfangs nur wenig. Crécy-en-Brie liegt nur etwa fünfzig Kilometer von Paris entfernt, doch damals war es noch eine ländliche Gemeinde. Das Dorf ist hübsch und besteht aus alten Häusern; Corot hat dort ein paar Bilder gemalt. Ein Kanalsystem leitet Wasser aus dem Grand Morin ab, was Crécy in manchen Werbeprospekten den übertriebenen Beinamen »Venedig der Brie« eingebracht hat. Nur wenige Bewohner des Ortes arbeiten in Paris. Die meisten sind in kleinen ortsansässigen Unternehmen beschäftigt, sehr viele auch in Meaux.
        Zwei Monate später kaufte seine Großmutter einen Fernsehapparat; im ersten Programm war gerade das Werbefernsehen aufgenommen worden. In den frühen Morgenstunden des
    21. Juli 1969 konnte er in einer Direktübertragung die ersten Schritte des Menschen auf dem Mond verfolgen. Sechshundert Millionen Fernsehzuschauer, über den ganzen Erdball verteilt, wurden im gleichen Augenblick Zeuge dieses Schauspiels. Die wenigen Stunden, die diese Übertragung dauerte, waren vermutlich der Höhepunkt der ersten Periode des technologischen Traums der westlichen Welt.
        Obwohl er mitten im Schuljahr ankam, gewöhnte er sich auf der Oberschule in Crécy-en-Brie gut ein und wurde ohne Schwierigkeiten in die achte Klasse versetzt. Jeden Donnerstag kaufte er Pif, eine Jugendzeitschrift, die gerade in neuer Aufmachung erschien. Im Gegensatz zu vielen Lesern kaufte er sie nicht in erster Linie wegen des Gimmicks, sondern wegen der vollständigen Abenteuerberichte. Vor dem Hintergrund erstaunlich vieler Epochen und Schauplätze führten diese Berichte ein paar einfache und tiefgründige moralische Werte vor Augen. Ragnar der Wikinger, Teddy Ted und der Apache, Rahan, der »Sohn wilder Zeiten«, Nasdine Hodja, der Wesire und Kalifen überlistete: sie alle hätten als Vertreter derselben Ethik dienen können. Michel wurde sich dieser Werte nach und nach bewußt und sollte für immer von ihnen geprägt bleiben. Die Lektüre von Nietzsche rief nur eine vorübergehende Verärgerung in ihm hervor, die Lektüre von Kant bestätigte nur das, was er bereits wußte. Die reine Moral ist einzig und universell. Sie erfährt im Laufe der Zeit keinerlei Veränderung und auch keinerlei Erweiterung. Sie hängt von keinem historischen, wirtschaftlichen, soziologischen oder kulturellen Faktor ab; sie hängt absolut von gar nichts ab. Sie ist nicht determiniert, aber sie determiniert. Sie ist nicht bedingt, aber sie bedingt. Mit anderen Worten, sie ist etwas Absolutes.
    Eine Moral, die sich in der Praxis beobachten läßt, ist immer das Ergebnis einer variablen Mischung aus Elementen reiner Moral und anderen Elementen mehr oder weniger unbekannter, zumeist religiöser Herkunft. Je höher der Anteil an Elementen reiner Moral ist, desto länger und glücklicher verläuft die Existenz der Gesellschaft, die Träger dieser betreffenden Moral ist. Im Extremfall ließe sich behaupten, daß eine Gesellschaft, die von den reinen Prinzipien der universellen Moral geleitet wird, ebenso lange besteht wie die Welt.
    Michel bewunderte alle Helden aus Pif, doch seine Lieblingsfigur war ohne Zweifel Schwarzer Wolf, der einsame Indianer, eine edle Synthese aus den Eigenschaften der Apachen, der Sioux und der Cheyennes. Schwarzer Wolf durchkreuzte in Begleitung seines Pferdes Shinook und seines Wolfs Toopee endlos die Prärie. Er handelte nicht nur, wenn er etwa ohne zu zögern den Schwächsten zu Hilfe eilte, sondern kommentierte auch ständig seine eigenen Handlungen auf der Grundlage eines transzendierenden ethischen Kriteriums, das manchmal durch verschiedene Sprichwörter der Dakota- oder Cree-Indianer poetisiert oder manchmal etwas nüchterner mit einem Hinweis auf das »Gesetz der Prärie« zum Ausdruck gebracht wurde. Noch Jahre später sollte Michel ihn als den Idealtypus des kantischen Helden betrachten, der immer so handelte, »als ob er durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.« Manche Episoden, wie etwa Das Le derarmband mit der ergreifenden Figur des alten

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