Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
Vom Netzwerk:
auch von anderen Molekülen eingenommen werden können, die die gleiche Wertigkeit, aber ein höheres Atomgewicht besaßen. Auf einem anderen Planeten mit anderen Temperatur- und Druckverhältnissen hätten Silizium, Schwefel und Phosphor die Moleküle des Lebens sein können; oder Germanium, Selen und Arsen; oder auch Zinn, Tellur und Antimon. Es gab niemanden, mit dem er ernsthaft über diese Dinge hätte diskutieren können: Auf seine Bitte hin kaufte ihm seine Großmutter mehrere Bücher über Biochemie.

    7

        Brunos erste Erinnerung stammte aus seinem vierten Lebensjahr; es war die Erinnerung an eine Demütigung. Er ging damals in den Kindergarten im Parc Laperlier in Algier. An einem Herbstnachmittag hatte die Kindergärtnerin den Jungen erklärt, wie man aus Blättern Girlanden herstellt. Die kleinen Mädchen saßen wartend am Fuß einer Anhöhe und stellten bereits die ersten Anzeichen einer dummen weiblichen Ergebenheit zur Schau; die meisten von ihnen trugen weiße Kleider. Der Boden war mit goldgelben Blättern übersät; es gab vor allem Kastanien und Platanen. Seine Kameraden wurden einer nach dem anderen mit ihrer Girlande fertig und standen auf, um sie ihrer kleinen Liebsten um den Hals zu legen. Er kam nicht voran, die Blätter zerbröselten, alles ging in seinen Händen kaputt. Wie sollte er ihnen erklären, daß er Liebe brauchte? Wie sollte er ihnen das ohne die Blättergirlande erklären? Er begann vor Wut zu weinen; die Kindergärtnerin kam ihm nicht zu Hilfe. Es war bereits zu spät, die Kinder standen auf, um den Park zu verlassen. Kurz darauf wurde der Kindergarten geschlossen.
        Seine Großeltern hatten eine schöne Wohnung am Boulevard Edgar-Quinet. Die Bürgerhäuser im Zentrum von Algier waren nach dem Modell der Pariser Wohnhäuser aus der Haussmannzeit errichtet. Ein zwanzig Meter langer Flur zog sich durch die ganze Wohnung und führte zu einem Wohnzimmer, von dessen Balkon man die ganze weiße Stadt überblicken konnte. Viele Jahre später, als er Anfang Vierzig war, verbittert und vom Leben enttäuscht, sollte das Bild wieder vor seinen Au- gen stehen, wie er sich als Vierjähriger auf seinem Dreirad abmühte und, so schnell er konnte, durch den dunklen Flur bis zu der hellen Öffnung des Balkons fuhr. Das waren vermutlich die Augenblicke, in denen er sein größtes irdisches Glück erlebt hatte.
        1961 starb sein Großvater. In unserem Klima zieht der Kadaver eines Säugetiers oder eines Vogels zunächst gewisse Fliegen (Musca, Curtonevra) an; sobald die Verwesung einsetzt, kommen augenblicklich andere Arten ins Spiel, insbesondere die Calliphora und die Lucilia. Unter der gemeinsamen Einwirkung von Bakterien und Verdauungssäften, die von den Larven ausgeschieden werden, verflüssigt sich der Kadaver mehr oder weniger, und durch Vergärung und Zersetzung wird Ammoniak und Buttersäure produziert. Nach drei Monaten haben die Fliegen ihr Werk vollendet und werden durch ein Heer von Käfern der Gattung Dermestes und den Schmetterling Aglossa pinguinalis ersetzt, die sich vor allem von den Fetten ernähren. Die im Gärungsprozeß befindlichen Eiweißstoffe werden von den Larven der Piophila petasionis und den Käfern der Gattung Corynetes verwertet. Der verweste Kadaver, der noch etwas Feuchtigkeit enthält, wird anschließend zum Revier der Milben, die dessen letzte Jauche aufsaugen. Aber auch wenn er ausgetrocknet und mumifiziert ist, beherbergt er noch Nutznießer: die Larven der Pelzkäfer und Kabinettkäfer, die Raupen der Aglossa cuprealis und der Tineola bisellefia. Sie vollenden den Zyklus.
        Bruno sah den schönen, tiefschwarzen, mit einem silbernen Kreuz verzierten Sarg seines Großvaters wieder vor sich. Es war ein beruhigendes, ja beglückendes Bild; sein Großvater dürfte sich in so einem herrlichen Sarg bestimmt wohl fühlen. Später sollte Bruno von der Existenz der Milben und all dieser Larven mit den Namen italienischer Starlets erfahren. Doch auch heute noch blieb das Bild vom Sarg seines Großvaters ein beglückendes Bild.
    Er sah seine Großmutter wieder vor sich, wie sie am Tag ihrer Ankunft in Marseille auf einer Kiste mitten in der mit Fliesen ausgelegten Küche saß. Kakerlaken liefen zwischen den Steinplatten umher. An jenem Tag hatte ihr Verstand vermutlich einen Knacks bekommen. Innerhalb weniger Wochen hatte sie den Todeskampf ihres Mannes, die überstürzte Abreise aus Algerien und die Schwierigkeiten, in Marseille eine Wohnung

Weitere Kostenlose Bücher