Elementarteilchen
zu finden, miterlebt. Es war eine schmutzige Siedlung im Nordosten der Stadt. Sie war noch nie zuvor in Frankreich gewesen. Und ihre Tochter hatte sie im Stich gelassen, sie war nicht zur Beerdigung ihres Vaters gekommen. Da mußte sich ein Fehler eingeschlichen haben. Irgendwo mußte ein Fehler begangen worden sein.
Sie kam wieder auf die Beine und blieb noch fünf Jahre am Leben. Sie kaufte sich Möbel, stellte für Bruno ein Bett ins Eßzimmer, meldete ihn in der Grundschule des Viertels an. Jeden Abend holte sie ihn ab. Er schämte sich, wenn er diese kleine, verhutzelte, gebrochene alte Frau sah, die ihn an die Hand nahm. Die anderen hatten Eltern; Scheidungskinder waren noch selten.
Nachts ließ sie unaufhörlich die Etappen ihres Lebens wieder an sich vorüberziehen. Die Decke der Wohnung war niedrig, im Sommer herrschte eine erstickende Hitze. Im allgemeinen fand sie erst kurz vor Tagesanbruch Schlaf. Sie verbrachte den ganzen Tag in Pantoffeln in der Wohnung, hielt Selbstgespräche, ohne es zu merken, wiederholte manchmal fünfzigmal nacheinander dieselben Sätze. Der Gedanke an ihre Tochter ließ ihr keine Ruhe. »Sie ist nicht zur Beerdigung ihres Vaters gekommen ...« Sie ging von einem Zimmer ins andere, hielt manchmal einen Scheuerlappen oder einen Topf in der Hand, deren Verwendungszweck sie vergessen hatte. »Beerdigung ihres Vaters gekommen ... Beerdigung ihres Vaters gekommen ...« Ihre Pantoffeln glitten mit schlurfendem Geräusch über die Fliesen. Bruno rollte sich verstört in seinem Bett zusammen; ihm wurde klar, daß das alles ein schlimmes Ende nehmen würde. Manch- mal begann sie bereits damit am frühen Morgen, im Morgenrock und mit Lockenwicklern. »Algerien ist Frankreich ...«, und dann setzte das Schlurfen ein. Sie ging zwischen den beiden Zimmern hin und her, während ihr Blick unverwandt auf einen unsichtbaren Punkt gerichtet war. »Frankreich ... Frankreich ...« wiederholte ihre Stimme, die allmählich leiser wurde.
Sie war immer eine gute Köchin gewesen, das war ihre letzte Freude. Sie bereitete die köstlichsten Gerichte für Bruno zu, als erwarte sie zehn Personen zum Essen. Eingelegte Paprika, Anchovis, Kartoffelsalat: Manchmal gab es fünf verschiedene Vorspeisen vor dem Hauptgericht - gefüllte Zucchini, Kaninchen mit Oliven, manchmal Couscous. Nur im Backen war sie nicht sehr gut, aber an den Tagen, an denen sie ihre Rente ausgezahlt bekam, brachte sie türkischen Honig, Maronencreme oder gebrannte Mandeln mit. Bruno wurde nach und nach ein dickes furchtsames Kind. Sie selbst aß fast nichts. Sonntag morgens stand sie etwas später auf; er schlüpfte in ihr Bett und schmiegte sich an ihren abgemagerten Körper. Manchmal stellte er sich vor, er wäre mit einem Messer bewaffnet und stände nachts auf, um ihr das Messer mitten ins Herz zu stechen; anschließend sah er sich, wie er weinend und völlig gebrochen vor ihrem Leichnam stand; er stellte sich vor, daß er wenig später sterben würde.
Ende 1966 erhielt sie einen Brief von ihrer Tochter, die ihre Adresse von Brunos Vater bekommen hatte - sie schrieben sich jedes Jahr zu Weihnachten. Janine drückte keinerlei ernstliches Bedauern über die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit aus, die sie nur mit folgenden Worten erwähnte: »Ich habe erfahren daß Papa gestorben ist und Du umgezogen bist.« Sie kündigte im übrigen an, daß sie Kalifornien verlassen werde, um sich wieder in Südfrankreich niederzulassen; sie gab keine Adresse an.
An einem Märzmorgen im Jahr 1967 stieß die alte Frau beim Zubereiten von fritierten Zucchini einen Topf mit siedendheißem Öl um. Sie hatte gerade noch die Kraft, den Hausflur zu erreichen, und ihr Geschrei alarmierte die Nachbarn. Als Bruno
abends aus der Schule kam, sah er Madame Haouzi, die eine Etage über ihnen wohnte; sie nahm ihn direkt ins Krankenhaus mit. Er durfte seine Großmutter ein paar Minuten lang sehen; ihre Wunden waren durch die Bettücher verhüllt. Man hatte ihr viel Morphium gegeben; dennoch erkannte sie Bruno, ergriff seine Hand; dann führte man das Kind fort. In der Nacht versagte ihr Herz.
Zum zweitenmal war Bruno mit dem Tod konfrontiert; zum zweitenmal entging ihm der Sinn des Ereignisses beinah vollends. Noch Jahre später, wenn er einen Französischaufsatz oder eine gelungene Geschichtsarbeit zurückbekam, nahm er sich vor, seiner Großmutter davon zu erzählen. Gleich darauf sagte er sich
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