Elementarteilchen
Sekunden wie vor den Kopf geschlagen, dann ging er über den Rasen zum Parkplatz. Der Supermarkt in Cholet, das Centre Leclerc, war bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet. Als er zwischen den Regalen herging, dachte er darüber nach, daß Aristoteles zufolge eine Frau von geringer Körpergröße einer anderen Gattung als die übrige Menschheit angehört. »Ein kleiner Mann scheint mir noch ein Mann zu sein«, schreibt der Philosoph, »aber eine kleine Frau scheint mir einer neuen Gattung der Schöpfung anzugehören.« Wie war diese seltsame Behauptung zu erklären, die in so starkem Gegensatz zu dem sonst so gesunden Menschenverstand des Stagiriten stand? Er kaufte Whisky, ein paar Dosen Ravioli und Ingwergebäck. Bei seiner Rückkehr war es bereits dunkel. Als er am Whirlpool vorbeikam, hörte er Geflüster, ein unterdrücktes Lachen. Mit der Leclerc-Tüte in der Hand blieb er stehen und blickte durch die Zweige. Anscheinend waren dort zwei oder drei Paare: Sie machten keinen Lärm mehr, nur die leichten Strudel des Wasserstrahls waren zu hören. Der Mond trat hinter den Wolken hervor. Im gleichen Augenblick kam ein weiteres Paar herbei und begann sich zu entkleiden. Das Flüstern begann wieder. Bruno stellte seine Plastiktüte ab, holte seinen Penis heraus und begann wieder zu onanieren. Er kam sehr schnell, in dem Augenblick, als die Frau in das heiße Wasser stieg. Es war schon Freitagabend, er würde seinen Aufenthalt um eine Woche verlängern müssen. Er würde die Sache anders angehen, sich ein Mädchen suchen, mit den Leuten reden.
6
In der Nacht von Freitag auf Samstag schlief er schlecht und hatte einen unangenehmen Traum. Er sah sich mit den Zügen eines jungen Schweins mit speckigem, unbehaarten Fleisch. Gemeinsam mit den anderen Ferkeln wurde er in einen riesigen dunklen Tunnel mit verrosteten Wänden getrieben, der die Form eines Hohlwirbels hatte. Die Strömung des Wassers, die ihn weitertrieb, war nicht sehr stark, manchmal gelang es ihm, die Beine auf den Boden zu stellen; dann kam eine stärkere Welle, und wieder wurde er ein paar Meter tiefer gezogen. Manchmal sah er das weißliche Fleisch eines seiner Gefährten, der durch den Sog roh nach unten gezogen wurde. Sie kämpften im Dunkeln, in völliger Stille, die nur ab und zu kurz vom Scharren der Hufe an den Metallwänden unterbrochen wurde. Als er weiter nach unten gelangte, hörte er jedoch ein dumpfes Maschinengeräusch, das aus den Tiefen des Tunnels heraufdrang. Nach und nach wurde ihm klar, daß der Strudel sie auf eine Turbine mit riesigen, messerscharfen Flügelrädern zutrieb.
Später lag sein abgeschnittener Kopf auf einer Wiese, die von der mehreren Meter hohen Mündung des Hohlwirbels überragt wurde. Sein Schädel war der Länge nach in zwei Hälften geteilt; und dennoch hatte der unversehrte Teil, der mitten im Gras lag, nicht das Bewußtsein verloren. Er wußte, daß die Ameisen allmählich in die offenliegende Gehirnmasse eindringen würden, um die Neuronen zu verschlingen; dann würde er endgültig das Bewußtsein verlieren. Zur Zeit beobachtete sein einziges Auge den Horizont. Die Grasfläche schien sich unendlich auszudehnen. Riesige Zahnräder drehten sich unter einem platinweißen Himmel in entgegengesetzte Richtungen. Vielleicht erlebte er das Ende der Zeit; zumindest war die Welt, so wie er sie gekannt hatte, an einem Ende angekommen.
Beim Frühstück lernte er einen bretonischen Altachtundsechziger kennen, der den Aquarellkurs leitete. Er hieß Paul Le Dantec und war der Bruder des gegenwärtigen Leiters des ORTS, er gehörte zum engen Kreis der Gründungsmitglieder. Mit seiner indischen Jacke, seinem langen grauen Bart und seiner baumelnden keltischen Halskette erinnerte er auf wunderbare, liebenswerte Weise an die Urgeschichte der Hippies. Mit über fünfundfünzig Jahren führte der Veteran jetzt ein friedliches Dasein. Er stand bei Tagesanbruch auf, wanderte durch die Hügel, beobachtete die Vögel. Dann ließ er sich vor einer Schale Kaffee mit Calvados nieder und rollte sich inmitten des menschlichen Treibens Zigaretten. Der Aquarellkurs begann erst um zehn, er hatte genug Zeit, um zu diskutieren.
»Als alter Wandlungsfreak ... (Bruno lachte, um wenigstens eine fiktive Gemeinsamkeit zwischen ihnen herzustellen), erinnerst du dich doch bestimmt noch an die Anfänge des Zentrums, die sexuelle Befreiung, die 70er Jahre ...«
»Befreiung? Ach du meine Fresse!« grunzte der Urahn.
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