Elementarteilchen
keinerlei Bezug mehr zu irgendeiner Realität. Der Satz über die Herzogin von Guermantes blieb trotz allem großartig. Aber irgendwie wurde die ganze Sache ein wenig deprimierend, und ich habe mich schließlich Baudelaire zugewandt. Die Angst, der Tod, die Schmach, der Rausch, die Sehnsucht, die verlorene Kindheit ... alles unbestreitbare, starke Themen. Trotzdem war die Sache seltsam. Der Frühling, die Hitze, all diese kleinen aufreizenden Teenies; und ich saß da und las:
Sei ruhig, o mein Schmerz, und sei besonnen.
Den Abend wolltest du; sieh her; er kam:
Ein dunkler Hauch hat schon die Stadt umsponnen,
Den einen bringt er Frieden, andern Gram.
Wenn Lust die gnadenlose Geißel schwingt
Ü ber die Sterblichen im Festgedränge,
Was Ihnen Reue nur und Scham einbringt,
Gib mir die Hand, mein Schmerz, komm von der Menge...
Ich habe eine Pause gemacht. Die Mädchen waren empfänglich für dieses Gedicht, das spürte ich genau, es herrschte Totenstille. Es war die letzte Unterrichtsstunde; in einer halben Stunde würde ich wieder den Zug nehmen und kurz darauf bei meiner Frau sein. Plötzlich hörte ich aus der letzten Reihe Bens Stimme: >Mann, du hast das Todesprinzip aber im Kopf, Alter! ...< Er hatte das ziemlich laut gesagt, aber es war keine eigentliche Frechheit, in seinem Ton lag sogar etwas wie Bewunderung. Ich habe nie ganz verstanden, ob das auf Baudelaire oder auf mich gemünzt war; im Grunde war das als T extkommentar gar nicht so schlecht. Trotzdem mußte ich natürlich etwas tun. Ich habe nur gesagt: >Raus!< Er hat sich nicht gerührt. Ich habe dreißig Sekunden gewartet und vor Angst geschwitzt, ich sah schon den Augenblick kommen, in dem ich keinen Ton mehr rauskriegen würde; aber ich habe immerhin noch die Kraft gehabt, den Befehl zu wiederholen: >Raus!< Er ist aufgestanden, hat ganz langsam seine Sachen zusammengepackt und ist auf mich zugegangen. Bei jeder gewalttätigen Gegenüberstellung gibt es so etwas wie einen begnadeten Moment, eine magische Sekunde, in der sich die in der Schwebe befindlichen Kräfte ausgleichen. Er ist vor mir stehengeblieben, einen Kopf größer als ich, und ich habe wirklich geglaubt, er würde mir einen reinsemmeln, aber nein, schließlich ist er einfach auf die Tür zugegangen. Ich hatte meinen Sieg errungen. Einen kleinen Sieg: Er ist am nächsten Tag wieder zum Unterricht gekommen. Er schien etwas begriffen zu haben und hatte wohl einen meiner Blicke erhascht, denn er fing an, seine Freundin während des Unterrichts zu befummeln. Er schob ihren Rock hoch und legte seine Hand ganz oben auf ihren Schenkel, so hoch wie möglich; dann sah er mich lächelnd und sehr cool an. Ich hatte eine Wahnsinnslust auf diese Kleine. Ich habe das Wochenende damit verbracht, ein rassistisches Pamphlet zu verfassen, wobei ich fast ununterbrochen eine Erektion hatte; am Montag habe ich beim L‘Infini angerufen. Diesmal hat mich Sollers in seinem Büro empfangen. Er war aufgekratzt und spöttisch wie im Fernsehen - sogar noch besser als im Fernsehen. >Sie sind ein echter Rassist, das spürt man, Sie sind ganz davon erfüllt, das ist gut. Peng, Peng!< Er hat eine sehr grazile Handbewegung gemacht und ein Blatt hervorgeholt, er hatte eine Passage am Rand angestrichen: >Wir beneiden und be wundern die Neger, weil wir ihrem Beispiel folgend wieder zu Tie ren werden wollen, zu Tieren mit einem langen Schwanz und ei nem winzigen Reptilhirn, Anhängsel ihres Schwanzes.< Er hat das Blatt fröhlich hin und her gewedelt. >Das ist stark, fetzig, echt gewagt. Sie haben Talent. Der Untertitel hat mir weniger gefallen, das ist ein bißchen zu billig: Man wird nicht als Rassist geboren, man wird dazu gemacht. Die Anspielung, die Ironie, das ist immer etwas ... Hmm ...< Sein Gesicht hat sich leicht verfinstert, aber dann hat er mit seiner Zigarettenspitze in der Luft einen Kreis beschrieben und wieder gelächelt. Ein richtiger Clown - aber furchtbar nett. >Nicht zu viele Einflüsse, und außerdem nichts Erdrückendes. Sie sind beispielsweise kein Antisemit!< Er hat eine andere Passage hervorgeholt: > Nur die Juden empfinden keinerlei Bedauern darüber, daß sie keine Neger sind, denn sie ha ben seit langem den Weg der Intelligenz, der Schuld und der Schmach gewählt. Nichts in der westlichen Kultur kommt dem auch nur annähernd gleich, was die Juden aus Schuld und Schmach zu machen verstanden haben; deshalb hassen die Neger sie ganz besonders.< M it sehr zufriedener Miene hat er sich auf
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