Elementarteilchen
nicht, wer angefangen hat, darüber zu reden, vermutlich die Schwulen; übrigens findet sich dieses Thema auch in den amerikanischen Kriminalromanen; Sartre dagegen verliert kein Wort darüber. Wie dem auch sei, in den Duschen des Gymnase-Clubs ist mir plötzlich bewußt geworden, daß ich einen ganz kleinen Schwanz hatte. Ich habe das zu Hause nachgeprüft: 12 Zentimeter, vielleicht 13 oder 14, wenn man das Zentimetermaß so weit wie möglich an die Schwanzwurzel preßte. Ich hatte eine neue Quelle des Leidens entdeckt; und in dieser Sache war nichts zu machen, das war ein schweres, unüberwindliches Handikap. Von dem Augenblick an habe ich angefangen, die Neger zu hassen. Allerdings gab es in unserem Gymnasium nicht viele, die meisten gingen in die Fachoberschule, ins Lycée Pierre-de-Coubertin, wo der berühmte Defrance eine philosophische Striptease-Nummer abzog und der Jugend gleichermaßen in den Arsch kroch. Ich hatte nur einen in meinen Klassen, in der Zwölf A, einen großen stämmigen Kerl, der sich Ben nennen ließ. Er trug immer eine Baseballmütze und Nikes, ich bin sicher, daß er einen irrsinnig langen Schwanz hatte. Alle Mädchen lagen natürlich vor diesem Affen auf den Knien; und ich versuchte, sie für Mallarmé zu interessieren, das war völlig absurd. So würde die westliche Zivilisation zugrunde gehen, habe ich mir verbittert gesagt: Man wirft sich wieder vor den langen Schwänzen in den Staub wie der H amadryas-Pavian. Ich habe mir angewöhnt, ohne Slip in den Unterricht zu kommen. Der Neger ging genau mit der, die ich mir auch ausgesucht hätte: niedlich, hellblond, ein kindliches Gesicht und hübsche apfelförmige Titten. Sie kamen Hand in Hand in die Klasse. Bei Stillarbeiten habe ich immer dafür gesorgt, daß die Fenster geschlossen blieben; den Mädchen wurde es bald zu warm, sie zogen ihre Pullover aus und ihre T-Shirts klebten ihnen an den Brüsten; ich holte mir hinter meinem Pult einen runter. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem sie einen Kommentar zu einem Satz aus Guermantes schreiben sollten:
>Auf dem Lande wurde Madame de Marsantes wegen ihrer Mildtätigkeit verehrt, vor allem aber wegen der Reinheit eines Blutes, an dem seit mehreren Generationen nur beteiligt war, w as es an Größtem und Ruhmvollstem in der Geschichte Frankreichs gab; dadurch war aus ihrer Art, mit Menschen umzugehen, alles verschwunden, was Leute aus dem Volk als »Getue« bezeichnen, sie war vollkommen schlicht.<
Ich beobachtete Ben: Er kratzte sich am Kopf, kratzte sich die Eier und kaute auf seinem Kaugummi. Wie sollte dieser große Affe bloß diesen Text begreifen? Wie sollten übrigens auch die anderen diesen Text begreifen? Ich selbst hatte Schwierigkeiten zu begreifen, was Proust genau damit meinte. Diese gut zehn Seiten über die Reinheit des Blutes, den Adel des Genies im Vergleich zum Adel der Rasse und das spezifische Milieu der großen Medizinprofessoren ... all das kam mir völlig schräg vor. Wir leben heute in einer Welt, die viel einfacher geworden ist, das ist offensichtlich. Die Herzogin von Guermantes hatte viel weniger Kohle als Snoop Doggy Dog; Snoop Doggy Dog hatte weniger Kohle als Bill Gates, aber bei ihm kriegten die Mädchen leichter feuchte Schenkel. Zwei Parameter, mehr nicht. Natürlich konnte man sich vorstellen, nach Prousts Muster einen Jet-set-Roman zu schreiben, in dem man Ruhm mit Reichtum konfrontiert und die Gegensätze zwischen einem Weltstar und einer Berühmtheit, die nur den happyfew bekannt ist, in Szene setzt; aber das war völlig witzlos. Der kulturelle Ruhm war nur ein schlechter Ersatz für den wahren Ruhm, den in den Medien gefeierten Ruhm; und dieser, an die Unterhaltungsindustrie gebundene Ruhm brachte viel höhere Geldsummen in Umlauf als jede andere menschliche Tätigkeit. Was war schon ein Bankier, ein Minister, ein Firmenchef im Vergleich zu einem Filmschauspieler oder einem Rockstar? In finanzieller, sexueller und überhaupt jeder Hinsicht eine Null. Die Unterscheidungsstrategien, die Proust so subtil beschrieben hat, ergeben heute keinen Sinn mehr. Wenn man den Menschen als hierarchisches Wesen betrachtet, als ein Wesen, das Hierarchien aufbaut, dann besteht zwischen der heutigen Gesellschaft und der des 18. Jahrhunderts etwa der gleiche Bezug wie zwischen dem GAN -Turm von La Défense und dem Petit Trianon in Versailles. Proust ist zutiefst europäisch geblieben, er war mit Thomas Mann einer der letzten Europäer; was er schrieb, hatte
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