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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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mir zu hören. Er hatte sich tatsächlich zur Ruhe gesetzt und all seine Anteile an der Klinik in Cannes verkauft; in den letzten Jahren habe er ziemlich viel Geld verloren, aber das ginge noch, andere seien schlimmer dran. Wir haben uns vorgenommen, uns bald einmal zu treffen; aber das hat sich so schnell nicht machen lassen.
        Anfang März habe ich einen Anruf von der Schulbehörde bekommen. Eine Lehrerin hatte ihren Mutterschaftsurlaub früher als vorgesehen genommen, und dadurch wurde ihre Stelle bis zum Ende des Schuljahrs frei, und zwar im Gymnasium in Meaux. Ich habe etwas gezögert, ich hatte Meaux ja immerhin in sehr schlechter Erinnerung; also gut, ich habe drei Stunden gezögert, und dann ist mir klar geworden, daß mir das scheißegal war. Daran merkt man vermutlich, daß man älter wird: Die emotionalen Reaktionen werden schwächer, man ist nicht mehr so nachtragend, erlebt aber nur noch selten eine Freude; man interessiert sich vor allem für das Funktionieren der Organe, ihr labiles Gleichgewicht. Als ich aus dem Zug gestiegen und durch die Stadt gegangen bin, ist mir vor allem aufgefallen, wie klein und häßlich diese Stadt ist - und vor allem total uninteressant. Wenn ich früher, als ich klein war, Sonntag abends in Meaux ankam, hatte ich immer den Eindruck, ich käme in eine riesige Hölle. Alles Unsinn, es war nur eine klitzekleine Hölle, die sich durch nichts hervorhebt. Die Häuser, die Straßen ... all das sagte mir nichts; selbst das Gymnasium war modernisiert worden. Ich habe die Gebäude des Internats besichtigt, das inzwischen geschlossen und in ein Heimatmuseum umgewandelt worden ist. In diesen Räumen hatten mich andere Jungen geschlagen, gedemütigt und sich einen Spaß daraus gemacht, mich anzuspucken, anzupissen und meinen Kopf in das Klobecken zu stecken; und dennoch regte sich nichts in mir, bis auf ein völlig allgemeines Gefühl leichter Trauer. >Selbst Gott kann das Geschehene nicht ungeschehen machen<, behauptet irgendein katholischer Autor; dabei schien das nicht allzu schwierig zu sein, wenn man sah, was von meiner Kindheit in Meaux noch übriggeblieben war. Ich bin stundenlang durch die Stadt gelaufen, bin sogar in das Bistro am Ufer zurückgekehrt. Ich erinnerte mich an Caroline Yessayan, an Patricia Hohweiller; aber ehrlich gesagt hatte ich sie nie ganz vergessen; dabei erinnerte nichts auf den Straßen an sie. Ich bin vielen jungen Leuten begegnet, Ausländern - vor allem schwarzen, viel mehr als in meiner Jugend, das war eine echte Veränderung. Dann habe ich mich im Gymnasium vorgestellt. Der Direktor fand es witzig, daß ich ein ehemaliger Schüler war, wollte sich meine Akte heraussuchen lassen, aber ich habe über etwas anderes gesprochen und es geschafft, mir das zu ersparen. Ich hatte drei Klassen: eine elfte, eine Zwölf A, literarischer Zweig, und eine Zwölf S, naturwissenschaftlicher Zweig. Die schwierigste, das war mir sofort klar, würde die Zwölf A sein: drei Jungen und über dreißig Mädchen. Über dreißig sechzehnjährige Mädchen. Blonde, dunkelhaarige, rothaarige. Französinnen, Nordafrikanerinnen, Asiatinnen ... alle bezaubernd, alle begehrenswert. Und sie trieben es, das sah man, sie trieben es mal mit dem einen, mal mit dem anderen Jungen, profitierten von ihrer Jugend; jeden Tag kam ich an dem Kondomautoma- ten vorbei, sie scheuten sich nicht, sich in meinem Beisein zu bedienen.
    Ausgelöst worden ist alles dadurch, daß ich mir nach und nach sagte, ich hätte vielleicht eine Chance. Vermutlich waren die Eltern von sehr vielen Mädchen geschieden, es mußte doch eine unter ihnen geben, die eine Vaterfigur suchte. Das könnte klappen; ich spürte, daß das klappen könnte. Aber das erforderte einen sehr männlichen, vertrauenerweckenden Vater mit breiten Schultern. Ich habe mir einen Bart wachsen lassen und mich im Fitneßstudio angemeldet, im Gymnase-Club. Die Sache mit dem Bart war kein voller Erfolg, er war eher mickrig und gab mir ein etwas verdächtiges Aussehen im Stil von Salman Rushdie; aber meine Muskeln sprachen gut auf das Training an, in wenigen Wochen haben sich meine Delta- und meine Brustmuskeln ordentlich entwickelt. Das Problem, das nun hinzukam, war mein Glied. Heute mag das verrückt klingen, aber in den 70er Jahren hat man sich über die Länge des männlichen Geschlechtsteils keinerlei Gedanken gemacht; ich habe in meiner Jugend alle erdenklichen Komplexe bezüglich meines Körpers gehabt, außer diesem einen. Ich weiß

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