Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
schlank.
»Hallo, Grace. Ich wette, die haben dich heute bei le- bendigem Leib aufgefressen, stimmt's?«
»Ach wo«, sagte Grace. »Sie waren alle ... echt nett.« Sie setzte sich erschöpft hin und legte die Blumen und die Konfektschale auf einen Tisch. Plötzlich fiel ihr auf, daß in der ganzen Wohnung gefegt und Staub gewischt wor- den war und daß in der Küche das Essen brutzelte. »Hey, das sieht ja toll aus hier«, sagte sie. »Wie komm' ich denn zu der Ehre?«
»Na ja, ich war eben schon früh zu Haus«, sagte Mar- tha. Sie lächelte; es war einer der seltenen Augenblicke, wo sie auf Grace einen schüchternen Eindruck machte. »Hab' einfach gedacht, es war' vielleicht ganz hübsch, wenn's hier zur Abwechslung mal ordentlich aussieht, bevor Ralph kommt.«
»Aha«, sagte Grace, »find' ich echt nett von dir.«
Der Anblick, den Martha nun bot, war noch erstaun-
licher: sie wirkte verlegen. Sie drehte einen mit Fett ver- schmierten Bratenwender zwischen den Fingern, hielt ihn vorsichtig von ihrem Kleid weg und begutachtete ihn, als gälte es, ein schwieriges Problem zur Sprache zu bringen. »Hör zu, Grace«, begann sie. »Du verstehst doch, wieso ich nicht zu deiner Hochzeit kommen kann, oder?«
»Aber ja«, sagte Grace, obwohl sie es eigentlich so genau nicht verstand. Es drehte sich irgendwie darum, daß Martha nach Harvard mußte, um ihren Bruder noch einmal zu sehen, bevor er zur Army ging, aber die Ge- schichte hatte sich von Anfang an nach einer Lüge ange- hört.
»Ich möcht' einfach nicht, daß du denkst, ich ... also ich war' jedenfalls froh, wenn du's verstehst. Und dann war' da noch was anderes, was Wichtigeres.«
»Was denn?«
»Na ja, es tut mir einfach leid, daß ich über Ralph
immer derartig hergezogen bin. Ich hatte überhaupt kein Recht, so mit dir zu reden. Er ist ein sehr netter Junge, und ich ... na ja, es tut mir einfach leid.«
Grace fiel es nicht leicht, eine jähe Anwandlung von Dankbarkeit und Erleichterung zu verbergen, und sagte: »Ach wo, ist schon okay, Martha, ich ... «
»Die Koteletts brennen an!« Martha stürzte in die Koch- nische. »Alles in Ordnung«, rief sie nach hinten. »Sind noch genießbar.« Als sie ins Zimmer zurückkehrte und das Essen servierte, war sie wieder ganz die alte. »Ich muß nach dem Essen gleich los«, sagte sie, während die beiden sich setzten. »Mein Zug geht in vierzig Minuten.«
»Ich hab' gedacht, du fährst erst morgen.«
»Na ja, das hatte ich ursprünglich auch vor«, sagte Mar-
tha, »aber ich hab' mich entschlossen, schon heute abend zu fahren. Da war nämlich noch etwas, Grace – falls du noch eine Entschuldigung vertragen kannst –, noch was anderes, was mir leid tut: ich hab' dir und Ralph so gut wie nie die Chance gegeben, hier mal allein zu sein. Und deswegen räum' ich heute abend die Bude.« Sie zögerte einen Augenblick. »Ist so eine Art Hochzeitsgeschenk von mir, okay?« Sie lächelte, diesmal nicht schüchtern, sondern eher so, wie es für sie typisch war – mit leicht abgewandtem Blick, nach einem kurzen, bedeutsamen Zucken der Lider. Es war ein Lächeln, das Grace – nach- dem es sie zunächst argwöhnisch gemacht, dann ver- wirrt, eingeschüchtert und schließlich zur Nachahmung gereizt hatte – schon seit langem mit dem Begriff »herab- lassend« verband.
»Also das ist wirklich sehr nett von dir«, sagte Grace, ohne im Moment schon richtig zu erfassen, worauf das Ganze hinauslief. Erst nach dem Essen und Geschirr- spülen, erst als Martha in einem Wirbel aus Kosmetika, Gepäck und eiligen Abschiedsgrüßen zum Zug aufgebro- chen war, wurde es ihr allmählich klar.
Sie nahm ein ausgiebiges, genüßliches Bad, trocknete sich anschließend eine ganze Weile ab und posierte da- bei, von einer seltsamen, langsam wachsenden Erregung gepackt, vor dem Spiegel. Dann holte sie im Schlafzim- mer aus dem raschelnden Seidenpapier einer kostspieligen weißen Schachtel die Glanzstücke ihrer Brautausstattung – ein hauchdünnes Nachthemd und ein dazu passendes Neglige –, zog sie an und stellte sich wieder vor den Spie- gel. Sie hatte so etwas noch nie getragen, sich auch noch nie so gefühlt, und die Vorstellung, sich Ralph so zu zei- gen, veranlaßte sie, in die Kochnische zu gehen und sich ein Glas von dem trockenen Sherry zu genehmigen, den Martha speziell für Cocktailpartys aufbewahrt hatte. Dann schaltete sie bis auf eine einzelne Lampe alle Lichter aus, begab sich mit ihrem Glas
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