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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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Schwester den Hals reckte und erst in die eine, dann in die andere Richtung der Station rief; »Besuchszeit ist um!« Dann ließ sie hinter ihrem steri- lisierten leinenen Mundschutz ein Lächeln erkennen, nickte Mrs. Balacheck zu und stapfte wieder davon. Nachdem die Musiker sich im Flüsterton kurz beraten hatten, begann Mrs. Balacheck, zur Einstimmung und um die störenden Geräusche der sich verabschiedenden Besucher zu übertönen, mit bebenden Wangen »Jingle Bells« zu spielen; die Sänger zogen sich ein wenig zurück und husteten leise vor sich hin – sie warteten darauf, daß die Zuhörer wieder zur Ruhe kamen.
     »Ach du Schande«, sagte Harry, »hab' gar nicht mit- gekriegt, daß es schon so spät ist. Komm, ich bring' dich noch raus zur Tür.« Er setzte sich behutsam auf und schwang die Beine aus dem Bett.
     »Nein, laß mal, Harry«, sagte Myra. »Bleib ruhig liegen.«
     »Nein, ist schon okay«, sagte er und schob die Füße in seine Hausschuhe. »Gibst du mir mal den Bademantel, Liebling?« Er stand auf, und sie half ihm in den cordsam tenen Bademantel, ein Kleidungsstück der Kriegsvetera- nen, das ihm sichtlich zu kurz war.
     »Gute Nacht, Mr. Chance«, sagte Myra; Mr. Chance nickte ihr grinsend zu. Sie verabschiedete sich von Red O'Meara und dem älteren Mann und wünschte auch Walter im Rollstuhl eine gute Nacht, als sie durch den Gang an ihm vorbeischritten. Dann hakte sie sich bei Harry unter und paßte sich – entsetzt darüber, wie dünn sein Arm war – sehr vorsichtig seinen langsamen Schrit- ten an. Vor der kleinen Gruppe verlegener Besucher, die sich im kleinen Wartezimmer aufhielten, blieben sie ste- hen und sahen einander an.
     »Tja«, sagte Harry, »dann mach's mal gut, Liebling. Bis nächste Woche.«
     »Puuh«, sagte die Mutter eines Patienten, als sie mit hochgezogenen Schultern zur Tür hinausstapfte, »ist das eine Kälte heut abend.« Sie drehte sich um und winkte ihrem Sohn noch einmal zu; dann nahm sie ihren Mann am Arm und ging die Treppe zum schneeverwehten Fuß- weg hinunter. Jemand stellte sich an die Tür und hielt sie den übrigen Besuchern auf, worauf ein kalter Luftzug den Raum erfüllte; schließlich ging die Tür wieder zu, und Myra und Harry waren allein.
     »Na denn, Harry«, sagte Myra, »du gehst jetzt zurück in dein Bett und hörst dir die Musik an.« Wie er im offenen Bademantel so dastand, wirkte er sehr gebrechlich. Sie langte nach vorn, machte den Mantel sorgfältig zu, griff sich den herabbaumelnden Gürtel und schlang ihn zu einem festen Knoten; Harry lächelte sie an. »Jetzt aber marsch zurück ins Bett«, sagte sie, »sonst holst du dir noch 'ne Erkältung.«
     »Okay. Gute Nacht, Liebling.«
     »Gute Nacht«, sagte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Gute Nacht, Harry.«
     An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sah ihm nach, wie er in seinem zu kurzen, hochtaillierten Bademantel zur Station zurücktappte. Dann trat sie nach draußen, ging die Treppe hinunter und schlug in der jähen Kälte den Mantelkragen hoch. Martys Wagen war noch nicht da; die Straße war leer, bis auf die kleiner wer- denden Gestalten der übrigen Besucher, die auf dem Weg zur Bushaltestelle vor dem Verwaltungsgebäude soeben eine Straßenlaterne passierten. Sie raffte den Mantel enger um sich und blieb, zum Schutz vor dem Wind, direkt vor dem Klinikbau stehen.
     Drinnen verklang »Jingle Bells«, gedämpfter Applaus setzte ein, und kurz darauf begann das eigentliche Pro- gramm. Das Klavier ließ ein paar getragene Akkorde ertö- nen, dann erhoben sich die Stimmen:

    »Hört, die Engel nah und fern, Sie singen die Geburt des Herrn ...«

    Myra schnürte es plötzlich die Kehle zu, die Straßenlater- nen verschwammen vor den Augen. Sie schob sich die Faust in den Mund und begann jämmerlich zu schluch- zen; kleine Atemwölkchen schwebten im Dunkel davon. Es dauerte lange, bis sie sich wieder in den Griff bekam, und jedesmal, wenn sie schniefend Luft holte, ertönte ein schrilles Geräusch, das klang, als hätte man es meilen- weit hören können. Schließlich war es vorbei, oder im- merhin fast vorbei; es gelang ihr, die Schultern unter Kontrolle zu bringen, sich die Nase zu schneuzen, das Taschentuch wegzustecken und die Handtasche mit wie- dergewonnener Routine zuzuklappen.
    Kurz darauf tauchten die Wagenscheinwerfer auf der
    Straße auf. Sie lief den Fußweg hinunter, stellte sich in den Wind und wartete.
     Im

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