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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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Radio hörte. »Hallo, Red.«
     »Oh, hallo, Mrs. Wilson. Hab' Sie gar nicht gleich ge- sehn.«
     »Kommt Ihre Frau heut abend noch, Red?«
     »Die kommt jetzt immer samstags. War gestern abend da.«
     »Aha«, sagte Myra, »dann grüßen Sie sie mal von mir.«
     »Klar, mach' ich, Mrs. Wilson.«
     Dann lächelte sie einem älteren Mann am gegenüber- liegenden Ende der Zelle zu, dessen Namen sie sich noch nie hatte merken können und der noch nie Besuch hatte; der Mann lächelte zurück, wirkte aber eher schüchtern. Sie machte es sich auf dem kleinen Stahlstuhl bequem, öffnete die Handtasche und kramte nach der Zigaretten- schachtel. »Was hast du denn da auf dem Schoß, Harry?« Es handelte sich um einen etwa dreißig Zentimeter durch- messenden Ring aus hellem Holz, an dessen rundum be- festigten kleinen Ösen eine Unmenge blauer Strickwolle hing.
     »Ach, das da?« sagte Harry und hielt das Ding in die Höhe. »Strickrahmen nennt man das. Hab' ich aus der Beschäftigungstherapie.«
      »Was für ein Rahmen?«
     »Strickrahmen. Also, man zieht mit der kleinen Häkel- nadel da irgendwie die Wolle über die Ösen um den Ring rum, ungefähr so, und das geht dann so lang weiter, bis man 'nen Schal oder 'ne Wollmütze hat – so was in der Art.«
     »Aha, verstehe«, sagte Myra. »Was ähnliches haben wir oft gemacht, als ich noch Kind war, bloß daß wir 'ne rich- tige kleine Zwirnrolle benutzt haben, mit Nägeln drin. Man wickelt einen Faden um die Nägel, zieht ihn dann durch die Rolle und hat zum Schluß so was wie ein Strickseil.«
     »Ah ja?« sagte Harry. »Mit 'ner Zwirnrolle, hm? Ja, jetzt fällt's mir wieder ein; ich glaub', meine Schwester hat auch so ein Ding gehabt. Eine Zwirnrolle. Stimmt, das hier ist das gleiche System, bloß größer.«
     »Und was hast du da grad' in der Mache?«
     »Och, keine Ahnung, ich spiel' einfach 'n bißchen rum damit. Vielleicht wird's 'ne Wollmütze oder so. Weiß noch nicht.« Er begutachtete seine Arbeit und drehte dabei den Strickrahmen hin und her; dann lehnte er sich zur Seite und verstaute den Ring in seinem Nachttisch. »Ist bloß, daß man was zu tun hat.«
     Sie hielt ihm die Schachtel hin; er nahm sich eine Ziga- rette. Als er sich nach vorne beugte, um die Flamme des Streichholzes zu erreichen, klaffte der gelbe Schlafanzug auf, und sie sah seinen unglaublich dürren Brustkorb, der auf der einen Seite, wo die Rippen fehlten, wie einge- drückt wirkte. Ganz kurz konnte sie den Rand der häß- lichen, frisch verheilten Narbe erkennen, die von der letzten Operation stammte.
     »Danke, Liebling«, sagte er, die Zigarette zitterte dabei zwischen den Lippen; er ließ sich in die Kissen zurück- sinken und streckte die in Socken steckenden Füße auf dem Bettlaken aus.
    »Wie geht's dir denn so, Harry?« sagte sie.
    »Prima.«
     »Du siehst besser aus«, log sie. »Wenn du noch 'n biß- chen zunimmst, dann siehst du sogar sehr gut aus.«
     »Zahltag«, sagte eine Stimme über den Radiolärm hin- weg. Myra wandte sich um und sah einen schmächtigen Mann im Rollstuhl durch den mittleren Gang heranfah- ren; er drehte die Räder, wie alle TB-Patienten, nicht mit den Händen, sondern schob den Stuhl, um den Druck auf die Brust zu vermeiden, langsam mit den Füßen voran. Auf Harrys Bett zusteuernd, begann er mit gelben Zäh- nen zu grinsen. »Zahltag«, wiederholte er und brachte den Rollstuhl neben dem Bett zum Stehen. Er trug eine Art Brustverband, aus dem ein Plastikschlauch ragte. Der Schlauch wand sich über das Oberteil seines Schlafan- zugs, war dort mit einer Sicherheitsnadel befestigt und mündete in eine kleine, mit einem Gummipfropfen ver- sehene Flasche, die schwer in seiner Brusttasche lastete. »Na los, auf geht's«, sagte der Mann. »Zahltag.«
     »Ach so, ja!« sagte Harry lachend. »Hab' ich total ver- schwitzt, Walter.« Er zog aus der Nachttischschublade einen Dollarschein und händigte ihn aus; der Mann fal- tete den Schein mit dürren Fingern zusammen und steck- te ihn zu der Flasche in die Brusttasche.
     »Okay, Harry«, sagte er. »Damit wären wir wieder quitt, alles klar?«
     »Alles klar, Walter.«
     Der Mann schob den Rollstuhl ein Stück zurück und wendete ihn. Myra sah, daß seine Brust, der Rücken und die Schultern völlig verschrumpelt und mißgestaltet waren. »Tut mir leid, daß ich gestört hab'«, sagte er und bedachte Myra mit einem anzüglichen Grinsen.
     Sie lächelte. »Schon gut.« Als er sich durch den Gang

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