Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
»Das heißt, so- lang ich den Arm nicht zu hoch strecke oder so. Wenn ich das mache, tut's weh, und manchmal auch, wenn ich mich im Schlaf auf die schlimme Seite dreh, aber solang ich in 'ner ... na ja ... halbwegs normalen Position bleibe, hab' ich überhaupt keine Schmerzen.«
»Wie schön«, sagte sie, »ich bin jedenfalls heilfroh, das zu hören
Eine ganze Weile blieben sie stumm; im Lärm der Radios, im Lärm von Gelächter und Husten, der von den übrigen Betten herüberdrang, wirkte das Schweigen der beiden befremdlich. Harry begann geistesabwesend in der Popular Science zu blättern. Myras Blick wanderte zu dem gerahmten Foto auf seinem Nachttisch, einem ver- größerten Schnappschuß, der die beiden kurz vor der Hochzeit zeigte, aufgenommen im Jahr 1945 in Michi- gan, im Hinterhof von Myras Mutter. Myra wirkte sehr jung auf diesem Bild, langbeinig in ihrem Rock; sie wuß- te weder, wie sie sich anziehen, noch wie sie dastehen sollte, sie wußte überhaupt nichts, und mit ihrem kind- lichen Lächeln war sie zu allem bereit. Und Harry – das verblüffende war, daß Harry auf dem Foto irgendwie älter aussah als heute. Vielleicht lag es daran, daß sein Gesicht und seine Figur seinerzeit fülliger waren, außer- dem tat natürlich die Kleidung ein übriges – die dunkle, mit Auszeichnungen drapierte Eisenhower-Jacke und die glänzenden Stiefel. O ja, mit seinem energischen Kinn und den stahlgrauen Augen hatte er damals gut ausge- sehen – viel besser zum Beispiel als ein ebenso statt- licher, ebenso kräftiger Mann wie Jack. Aber mittlerweile hatte sich durch den Gewichtsverlust etwas Weiches um seine Lippen und Augen gelegt, und das ließ ihn wie einen schmächtigen kleinen Jungen erscheinen. Sein Ge- sicht hatte sich verändert und paßte zum Schlafanzug.
»Bin wirklich froh, daß du mir die hier mitgebracht
hast«, sagte Harry und wies auf die Popular Science. »Steht ein Artikel drin, den ich gleich lesen muß.«
»Fein«, sagte sie, wollte aber eigentlich sagen: Kann das nicht warten, bis ich gegangen bin?
Harry legte die Zeitschrift, mit dem Titelblatt nach unten, zur Seite, kämpfte gegen den Drang an, darin zu lesen, und sagte: »Und wie geht's sonst, Liebling? Ich mein', außer im Büro?«
»Gut«, sagte sie. »Mutter hat neulich geschrieben, einen Brief zu Weihnachten. Sie läßt dich herzlich grüßen.«
»Fein«, sagte Harry; die Zeitschrift gewann inzwischen die Oberhand. Er fing wieder an zu blättern, schlug den betreffenden Artikel auf und las, als wollte er sich nur vergewissern, daß es sich um den richtigen Artikel han- delte, ganz beiläufig ein paar Zeilen, bis er schließlich völlig darin vertieft war.
Myra zündete sich am Stummel ihrer letzten Zigarette eine neue an, nahm die Life zur Hand und begann zu blättern. Ab und zu hob sie den Kopf und warf einen Blick auf ihren Mann; er lag da, kaute beim Lesen an einem Fingerknöchel herum und kratzte sich mit dem gekrümmten großen Zeh des einen Fußes durch die Sok- ken hindurch an der Sohle des anderen.
So ging der Rest der Besuchszeit dahin. Kurz vor acht Uhr erschien eine Gruppe von Leuten, die lächelnd ein Klavier auf Gummirädchen durch den Gang rollten – Mitarbeiter des Roten Kreuzes, die für die Sonntagabend- unterhaltung zuständig waren. Mrs. Balacheck führte die Prozession an, eine freundliche, korpulente Frau in Uni- form; sie war die Pianistin. Als nächstes kam das Klavier selbst, geschoben von einem bleichen jungen Tenor mit ständig feuchten Lippen, und dahinter folgten die Sänge- rinnen: eine aufgedunsene Sopranistin in einem Taftkleid, das unter den Armen wohl etwas zu eng war, und eine schlanke, streng blickende Altistin mit einer Aktenmappe. Ganz in der Nähe von Harrys Bett, ungefähr in der Mitte der Krankenstation, brachte man das Klavier zum Stehen, und die Musiker begannen ihre Noten auszupacken.
Harry blickte von seiner Lektüre auf. »'n Abend, Mrs. Balacheck.«
Sie wandte sich ihm mit blitzenden Brillengläsern zu. »Wie geht's Ihnen heut abend, Harry? Haben Sie Lust auf ein paar Weihnachtslieder?«
»Klar, Ma'am.«
Nacheinander gingen die Radios aus, und die Gesprä- che verstummten. Doch noch ehe Mrs. Balacheck in die Tasten greifen konnte, tauchte eine stämmige Schwester auf, stapfte auf Gummiabsätzen durch den Gang und wies die Musiker mit ausgestreckter Hand an, zu warten, bis sie etwas verkündet hatte. Mrs. Balacheck lehnte sich zurück, worauf die
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